Frisch Gelesen Folge 117: Deadly Class 1 & 2

»Lektion eins: Solltest du je den Standort dieser Schule preisgeben, wirst du im Schlaf ausgeweidet.«
»Cool. Kling nett.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Deadly Class Band 1: »Die Akademie der tödlichen Künste«

Story: Rick Remender
Zeichnungen: Wes Craig

Cross Cult
Softcover | 176 Seiten | Farbe | 16,80 €
ISBN: 978-3-959811-81-1

 

Deadly Class Band 2: »Kinder ohne Heimat«

Story: Rick Remender
Zeichnungen:
Wes Craig

Cross Cult
Softcover | 176 Seiten | Farbe | 16,80 €
ISBN: 978-3-959812-08-5

Genre: Action, Coming-of-Age

Für alle, die das mögen: The Umbrella Academy, Preacher, die Achtziger, Punk


Die Achtziger: Kein Jahrzehnt boomt in der fiktionalen Rückbetrachtung derzeit so sehr wie die Dekade der Karottenhosen und Schulterpolster. Zum einen lassen sich entlang des Eisernen Vorhangs prima Spionagegeschichten erzählen. Die Mauer stand noch, und die Welt war (scheinbar) einfacher. Spannung zwischen Marx und Coca Cola. Zum anderen sitzen viele der damaligen Kids mittlerweile an den Schalthebeln der Medienindustrie. Was läge also näher, als die eigenen Erinnerungen in neonfarbene Bilder zu packen? Die Folge: allerorten Nostalgie zwischen E.T. (1982), den Gremlins (1984) und den Goonies (1985). Der Netflix-Hit Stranger Things der 1984 geborenen Duffer Brothers oder Brian K. Vaughans und Cliff Chiangs Paper Girls lassen grüßen. Seit Ende 2018 hat auch der Konkurrenzsender SYFY sein Eighties-Äquivalent im Programm – allerdings mit einem gravierenden Unterschied: In Deadly Class geht es wie in Rick Remenders und Wes Craigs Comicvorlage nicht annähernd so heimelig-harmonisch zu.


Harter Alltag: Eine Doppelseite, die Gegenwart und Vergangenheit kunstvoll miteinander verbindet.

Die Profiteure von Ronald Reagans Wirtschaftspolitik suchen wir in Deadly Class vergebens. Hier lächelt kein heiles republikanisches Vorstadtidyll mit weißen Gartenzäunen, Rosenhecken und Zeitungsausträgern auf Bonanza- und BMX-Rädern von den Seiten. Remender stürzt uns mitten hinein ins nasskalte San Francisco. Im Januar 1987 ist die Stadt an der Westküste längst kein heiterer Hippiehafen mehr, sondern ein Obdachlosenalbtraum. Hier bettelt der 14-jährige Marcus Lopez Arguello um ein paar Cent. Seine Geschichte schildert er uns über Tagebucheinträge, die – manchmal etwas zu pathetisch – als erzählerischer roter Faden fließend über den Panels liegen. Schuld am Tod seiner Eltern ist seiner Meinung nach Reagans Politik, was ihn auf die fixe Idee bringt, den 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika um die Ecke zu bringen. Was wie ein Sozialdrama beginnt, nimmt eine unvermittelte Wendung, als Meister Lin den Jungen für seine Bildungseinrichtung rekrutiert. An der »Kings Dominion Akademie der tödlichen Künste« werden Schüler zu Assassinen ausgebildet. Statt Mathe, Englisch und Biologie stehen Nahkampf, Giftmischen und properes Enthaupten auf dem Lehrplan.


Panelsprengende Action: Die Schüler der Akademie sind akrobatische Killer.

Auf den ersten Blick wirkt das ziemlich schräg, wie die comictypische Prise Irrwitz. Ein Blick in Rick Remenders Biografie offenbart indes viele persönliche Erfahrungen. Remender, wie sein Protagonist am 6. Februar 1973 geboren, hat seine Jugend in den 1980ern verbracht. Bis zur achten Klasse lebte er in Phoenix, Arizona, zog danach viel um und haute schließlich von zu Hause ab, als er seinen Führerschein in der Tasche hatte. In einer Schule voller Hinterwäldler war er der Freak und fühlte sich nur in seiner Clique von Außenseitern wohl. Dieses Gefühl hat er auf seinen Comic übertragen. Auch Gewalt war Remender nicht fremd. »Phoenix in den späten 80ern und frühen 90ern war ein gewalttätiger Ort«, schreibt der Comicszenarist im Nachwort des ersten Sammelbands. »In einer Stadt wie dieser aufzufallen, führte dazu, dass einige meiner Freunde verprügelt, abgestochen oder sogar angeschossen wurden.«


Auch nur Jugendliche: Abseits all des Tötens haben die Schüler Zeit für Spaß, hier bei einem Punk-Konzert.

Eine High School voll angehender Auftragsmörder – das ist die Realitätsverschiebung, durch die Remender seine eigenen Gewalterfahrungen schildert und hinter der er eine grundsolide Coming-of-Age-Geschichte versteckt. Abseits des ausgefallenen Lehrplans unterscheidet sich diese tödliche Akademie nicht großartig von anderen Schulen. Ganz ähnlich wie Gerard Way und Gabriel Bá in ihrer Umbrella Academy eigentlich von der dysfunktionalen Familie hinter einer schrägen Superheldentruppe erzählen, geht es bei Remender um die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens: um erste Drogen, erste Liebe, ersten Sex, um Freundschaft, Eifersucht und Cliquenbildung, um Mainstream und Außenseitertum, um hässliche Entlein und Schulschönheiten, um Poser, Loser und Bullys. Eine Geschichte, die auch ohne Mord und Totschlag funktioniert hätte, dadurch aber ihren Reiz erhält. Mal spritzt das Blut, mal fließen die Exkremente in Strömen. Deftig-derbe Comicunterhaltung, die nicht selten an Werke von Garth Ennis erinnert. (Wer bei Bösewicht Fuck Face nicht automatisch an Arseface denkt, hat Preacher nicht gelesen.) Der tägliche Gang durch die Schulflure als Spießrutenlauf, Unterricht als Überlebenskampf: eine zugespitzte Metapher auf eine Gesellschaftsordnung, die ihre schwächsten Glieder frisst und unverdaut auf die Straße spuckt. Im Kapitalismus überleben nur die Killer.


Vertraute Fratze: Bösewicht Fuck Face erinnert an Arseface aus Preacher.

Deadly Class ist eine Abrechnung mit all den Möchtegerns, die ihre eigene Unsicherheit mit aufgesetzter Coolness überspielen und andere damit verletzten; letztlich aber auch eine Abrechnung mit sich selbst, mit Außenseitern wie Marcus & Co., die sich allzu gern in ihrem (Selbstmit-)Leid suhlen und sich in ihrem ätzenden Welthass selbstvergessen zu Geschmacks-Snobs erheben. Ihrem vernichtenden Urteil hält kein popkulturelles Phänomen stand. Die Filme von John Hughes bekommen ebenso bitterböse ihr Fett weg wie die Musik der Grateful Dead oder Der Zauberer von Oz. Dabei sind der Punk und der Hip-Hop, sind die traurigen Songs der Smiths oder die Comics von Wally Wood und Robert Crumb, die Marcus' Werturteil passieren, in den vergangenen 30 Jahren selbst von ihrer Randständigkeit in die Mitte des Massengeschmacks gewandert.

Das Blut spritzt: Freunde derber Gewalt kommen auf ihre Kosten.

Remender erzählt diese Geschichte über eine Gruppe gequälter Seelen mit unglaublich viel Schwung, Mitgefühl und dramaturgischem Gespür. Zwischen all den kleinen Episoden, die nach und nach die abgründigen Hintergrundgeschichten von Marcus' Mitschülerinnen und Mitschülern beleuchten, und der übergeordneten Rahmenhandlung hält er gekonnt die Spannung. Ganz ohne Klischees kommt er dabei leider nicht aus. Und ab und an (besonders im zweiten Band) neigt er zu (abgedroschener) Geschwätzigkeit, wo die Panels ganz ohne Worte ausgekommen wären.


Blutspur: Bewegung durch Raum und Zeit.

Apropos Panels: Ein echter Höhepunkt sind Wes Craigs Zeichnungen, von Lee Loughridge toll koloriert. Craigs Strich ist flüssig, seine Seitenarchitektur durchdacht. Der Wechsel zwischen Panorama- und Detailansichten ist perfekt, ein ausbalancierter Rhythmus, der beim bloßen Hinsehen Dynamik erzeugt. Selbst Craigs doppelseitige Wimmelbilder sind voller Bewegung, weil die Figuren mit dem Raum auch immer die Zeit durchmessen. Wie er diese, das Einzelbild sprengenden Bewegungen in Actionsequenzen überführt, ist fabelhaft. Craigs Seiten sind an vielen Stellen rasanter und ausgefallener als die gut gemachte, aber schon so häufig gesehene Action in der Fernsehserienumsetzung des Comics.

Ob Marcus' Anschlag auf Ronald Reagan gelingen und Rick Remender damit die Geschichte umschreiben wird, steht auf bislang noch ungeschriebenen Comicseiten. Wie es weitergeht, können deutsche Leserinnen und Leser ab Mitte August 2019 im dritten Sammelband erfahren. So können sich die Achtziger jedenfalls sehen lassen.

[Falk Straub]


Wimmelbild mit Schülern: Marcus & Co. beim Drogenkauf vor einem Grateful-Dead-Konzert.

Abbildungen © 2019 Cross Cult


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