Frisch Gelesen Folge 243: Rorschach 1 & 2

 

»Lieber Wil, ich hatte heute vor, mich umzubringen, aber dann wollte ich Ihnen schreiben und hab es gelassen. Ich bin neunzehn. So alt wie Mary Shelley. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das schon geschrieben hab. Beste Grüße Laura«


FRISCH GELESEN: Archiv


Rorschach Band 1

Text: Tom King
Zeichnungen: Jorge Fornés

Panini Comics
Hardcover | 72 Seiten | Farbe | 15,00 €
ISBN: 978-3-7416-2276-2


Rorschach Band 2

Text: Tom King
Zeichnungen: Jorge Fornés

Panini Comics
Hardcover | 72 Seiten | Farbe | 15,00 €
ISBN: 978-3-7416-2452-0

Genre: Superhelden

Für alle, die das mögen: Watchmen, HBOs Watchmen, Heroes in Crisis



Früher war Rorschach für mich der geheime Held der Watchmen – und ich glaube, so ging es vielen. Schließlich war der einsame, wortkarge Rächer mit der sich stetig verändernden Maske der einzige Superheld in einer komplexen, ambivalenten Welt, der konsequent und gegen alle Widerstände für die Wahrheit und echte Werte kämpfte. Ja, gut, er war etwas irre und ein wenig zu brutal, aber: Er kämpfte für das Richtige! Da darf er schon einige Grenzen überschreiten

Betrachte ich Rorschach heute, sehe ich einen Mann, der fest davon überzeugt ist, dass er als einziger im Besitz der Wahrheit ist. Seine Realität ist simpel, Menschen sind gut oder böse, und wer auf der falschen Seite steht, muss weg. Widersprüchlichkeiten ignoriert er, da es um Höheres geht: Werte. Seine Werte. Die er für universell hält. Kurz gesagt: Ich sehe jemanden, der das Kapitol stürmt, um Amerika zu retten.

Und nach den ersten beiden Bänden von Rorschach habe ich den Eindruck, dass es dem Rorschach-Autor Tom King ähnlich geht.


Am Anfang ein Ende: Rorschachs Tod während eines gescheiterten Attentats.


Rorschach
beginnt mit dem Tod von Rorschach: Er und seine Begleiterin sterben, als sie versuchen, einen Präsidentschaftskandidaten zu erschießen. Wer Watchmen kennt, weiß, dass Rorschach am Ende der Serie stirbt (oder es zumindest so wirkt), aber so ganz klar scheint das nun nicht mehr: Die Geschichte spielt 30 Jahre nach den Ereignissen im Comic, also im Universum der HBO-Serie, und der Tote hat das richtige Alter – aber vor allem die passenden Fingerabdrücke.

Ein wortkarger, ausgesprochen abgestumpft wirkender Detektiv übernimmt die Ermittlungen und Gespräch für Gespräch, Indiz für Indiz entfalten sich langsam die Ereignisse, die zu dem Mordanschlag führten. Der erschossene Rorschach, stellt sich heraus, war der alte Comiczeichner William Myerson, seine Begleiterin Laura Cummings eine 19-Jährige, die im Zirkus ihre Schießkünste vorführte. Beide hatten, vorsichtig gesagt, ein schwieriges Leben: Myerson existierte isoliert, erfolglos und leer vor sich hin, Cummings wurde von ihrem Vater zu einer Kampfmaschine ausgebildet und wollte sich nach seinem Tod umbringen.


Erste Ermittlungen: Der wortkarge Detektiv nimmt seine Arbeit auf.


Tom King ist bekannt für seine unkonventionellen Sichtweisen auf etablierte Figuren und seinen Hang, komplexe Themen in vermeintlich simple Superheldengeschichten zu packen. Dafür hat er in den vergangenen Jahren etliche Preise gewonnen, darunter mehrere Eisner Awards. Aber diese Serie ist selbst für seine Verhältnisse extrem: In Rorschach geht es um erniedrigte und traumatisierte Menschen, die der Trauer und der Verzweiflung mit Gewalt entkommen wollen – wobei Gewalt wortwörtlich gemeint ist. Aber vielleicht ist das so, wenn dich der eigene Vater zwingt, ihn zu erschießen, weil er glaubt, er werde von Außerirdischen kontrolliert. Oder wenn dich der Freund der Frau, die du heimlich liebst, verprügelt, weil er denkt, du bist ein Schwächling – und leider recht hat.

So aufgeschrieben klingt das alles wahnsinnig deprimierend und trostlos, aber das Gegenteil ist der Fall. Dafür ist auch der exzellente Zeichner Jorge Fornés verantwortlich, der mit Tom King bereits an Batman und Heroes in Crisis gearbeitet hat. Er tendiert zu leeren Räumen und weiten Horizonten, die wunderbar mit der Leere der Figuren korrespondieren. Laura am Rand eines verwarzten Swimmingpools, an dessen Boden sich der Dreck sammelt – ja, so sieht ihre Welt wohl aus.


Abseits der Bühne ist Lauras Welt deprimierend und trostlos.


Vor allem aber passen Fornes konzentrierte und übersichtliche Bilder zu Kings Erzählweise, die sich in den vergangenen Jahren zu einem hoch liquiden Strom entwickelt hat, in der die Szenen ineinanderfließen, sodass Menschen, Zeiten und Orte verschmelzen, bis alles mit allem zusammenhängt. In Rorschach ist das nicht so extrem wie in Kings ebenfalls sehr guten Strange Adventures, wo Zeiten und Orte wechseln, als wäre alles durch Drehtüren verbunden (wie übrigens auch in einigen der besseren Episoden der HBO-Serie Watchmen). Doch weil hier die Handlung fast nur in Rückblicken geschieht, gibt es immer zumindest zwei Ebenen, Vergangenheit und Gegenwart, und das von mindestens zwei Personen, die sich unabhängig voneinander Richtung Abgrund bewegen.

Das ist ganz große Erzählkunst, visuell exzellent umgesetzt, aber viel beeindruckender finde ich, dass es King gelingt, die verwirrten Amerikaner, die wir nur als Trump-Fans kennen, von einer neuen Seite zu zeigen. In Rorschach sind sie Opfer von Lügen und Manipulationen, die nichts zu verlieren haben außer ihrem Glauben an das Gute und Richtige, den sie schon deshalb verteidigen werden, weil das alles ist, was ihnen geblieben ist. Damit ist King sehr nahe am Watchmen-Original: Das ist Amerika – und es hat Rorschach verdient.


Auf der Bühne ist Laura in ihrem Element und auch Jorge Fornés trifft mir seiner Mischung aus Details und leeren Räumen ins Schwarze.

[Peter Lau]

Abbildungen © 2021 Panini Comics / Tom KingJorge Fornés


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