Frisch Gelesen Folge 294: Welt ohne Ende

 »Droht uns das Ende der Welt, Jean-Marc?«
»Nicht sofort, wenn’s gut läuft.«


FRISCH GELESEN: Archiv 


Welt ohne Ende

Story: Christophe Blain, Jean-Marc Jancovici
Zeichnungen: Christophe Blain

Reprodukt
Hardcover │ 196 Seiten│ Farbe │ 39,00 €
ISBN: 978-3956403187

Genre: Sachcomic, Wissenschaftscomic

Für Leser, die das mögen: Es war einmal … (Trickserie), Teilchenphysik. Ein Sachcomic (TibiaPress), Widerstand ist zwecklos – Nein! (avant-verlag)


Im Prolog erinnert sich Christophe Blain an den Sommer 2018, als die Presse zum ersten Mal eine Hitzewelle in Frankreich mit dem Klimawandel in Verbindung brachte und er anfing, sich Sorgen zu machen. Er erinnert sich, wie ihm sein Bruder kurz darauf zu diesem Thema Vorträge von Jean-Marc Jancovici empfahl; offenbar nicht zum ersten Mal. Und er das dann genervt beiseiteschob, um im Jahr darauf erneut mit seinem Bruder darüber zu sprechen. Der dann dabei einen Schritt weitergeht und schnörkellos rät: »Mach ein Buch mit Jean-Marc Jancovici«. Jancovici ist Experte für Energie- und Klimafragen, Mitbegründer eines auf Klimafragen spezialisierten Beratungsunternehmens, Präsident des Thinktanks The Shift Project und Hauptentwickler der wichtigsten französischen Methode zur Kohlenstoffbilanzierung.


Jean-Marc Jancovici ist ein Tausendsassa und in Sachen Umwelt unterwegs.


Die Idee fiel auf fruchtbaren Boden; Blain und Jancovici trafen sich. Das Ergebnis dieses Gedankenaustauschs ist ein außerordentlich gehaltvoller Sachcomic, der 2021 in Frankreich herauskam, hübsch anzusehen und bis zu einem gewissen Grad locker-flockig lesbar ist. Blain strickt aus den eigentlich nüchternen wissenschaftlichen Inhalten eine flüssige Story, die er mit den Mitteln des Realismus und Semi-Funny bebildert. Bezüge zu Film, Comic, Literatur und Geschichte sorgen für zusätzlichen Pep. Mad Max oder Für eine Handvoll Dollar lassen grüßen. Blains Comicgegenstück stellt die Fragen. Jancovicis Inkarnation gibt Antworten – die einem aber meistens nicht gefallen. Das liegt aber in der Sache; dazu später mehr.


Blains Comicpendant schlüpft ins Iron-Man-Kostüm: An der Nase muss aber noch gearbeitet werden.


Es macht Spaß zu sehen, wie sich Blain vorstellt, mit einem Fahrrad und einer abenteuerlichen Apparatur seine Kraft so zu vervielfältigen, dass er Strom ohne Ende generiert. Nur um von Jancovici zu hören, dass das aufgrund des sogenannten Energieerhaltungssatzes nicht möglich ist. Beine kommen eben äußerst schnell an ihre Leistungsgrenze. Jancovici weckt das Interesse für komplexe Sachverhalte, die erstaunlich viele Wissenschaften einbeziehen, zum Beispiel Wirtschaft, Chemie oder Geologie und vermittelt diese nachvollziehbar. Doch die Flut an Fakten, Fakten und nochmals Fakten, Zahlen und Statistiken scheint kein Ende zu nehmen. Da nützen die schönsten Bildchen nichts. Lesepausen dagegen schon.

Ab einem gewissen Punkt nervt das Buch aber erst einmal nur und lässt einen den gelungenen Einstieg vergessen. Blain hat »grüne« Ideen, und was macht Jancovici? Er macht diese mit seinen »Analysen« madig. Und produziert schiere Verzweiflung. Wieso kann die Welt so nicht gerettet werden?


Die Energieerzeugung im Wandel der Zeit: Hier Holz, auf darauffolgenden Seiten Kohle und Erdöl.


Jancovici wird nachgesagt, dass er sich für den schrittweisen Ausstieg aus fossilen Brennstoffen einsetzt. Im Buch liest sich das gefühlt anders, weil er die jeweiligen Vorgänge kühl und rational betrachtet, diese oft sogar emotionslos wie ein Wirtschaftsboss durchkalkuliert. Und einem dann auch noch vorrechnet, warum dieses oder jenes nicht funktioniert. Oder keinen Sinn macht. Das ist selbstverständlich frustrierend. Nach über zwei Dritteln des Bandes rauschen Jancovicis Sympathiewerte regelrecht in den Keller, denn Meckerliesen mag niemand.

Das ist aber eine tragische Fehlinterpretation. Jancovici geht es nicht um die oder eine Idee. Er interessiert sich vielmehr dafür, zu zeigen, was dieses oder jenes Vorhaben bewirkt oder auslösen kann. Dass etwa der Einsatz von Atomkraft sehr reizvoll und sinnvoll sein kann; interessant, dass er diese nicht grundsätzlich ablehnt. Dass auch bei der Elektromobilität wertvolle Ressourcen verbraucht werden. Dass die Atomenergie aber trotzdem schlimme Nebenwirkungen hat, wenn etwas schiefgeht, und elektrifizierte Fortbewegung dann eine tolle Sache ist, wenn sie richtig aufgezogen wird.


Frustrierend, wenn der Grundgedanke verstanden ist: Der menschliche Raubbau ist heute so wie früher – nur die Größenordnungen haben sich geändert.


Ist das erst einmal begriffen, liest sich der Band wieder vergleichsweise unbeschwert. Dann fällt einem auch wieder ein, dass zum Beispiel bei den Techniken zur Speicherung von Energie erstaunliche Fortschritte gemacht wurden. Und: Dass es wichtig ist, die Konsequenzen des eigenen Handelns abzuschätzen. Dann scheint die Zukunft doch nicht gänzlich verloren zu sein. Weil dann zum Beispiel gezielt Wege zur Energiegewinnung gewählt werden können, die unsere Mutter Erde schonen. Ist aber alles relativ. Denn: Irgendwas wird immer verbraucht.

[Walter Truck]

Abbildungen © 2022 Reprodukt / Christophe Blain, Jean-Marc Jancovici


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