Frisch Gelesen Folge 340: Blood of the Virgin

»Bei einem Meeting habe ich Zellner die Story von 'Wilde Nächte' erzählt, wie ‘ne Gutenachtgeschichte. Der hatte am Ende richtig Tränen in den Augen. Er sagte, das sei die beste Geschichte aller Zeiten. Ich gehe also in sein Büro, um den Vertrag zu unterschreiben, und auf dem Tisch sehe ich ein ausgestopftes Wiesel mit zwei Köpfen, ich verarsch dich nicht. Da hab ich mich sofort verpisst.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Blood of the Virgin

Story: Sammy Harkham
Zeichnungen: Sammy Harkham

Reprodukt
Hardcover | 296 Seiten | weitgehend zweifarbig | 39,00 €
ISBN: 978-3-95640-336-1

Genre: Graphic Novel

Für alle, die das mögen: Daniel Clowes, Los Bros Hernandez und andere moderne US-Storyteller



Obwohl Sammy Harkhams persönlicher Output in den vergangenen 20 Jahren sehr gering war, kennen ihn alle, die an modernen US-Comics interessiert sind: Der 43-Jährige ist der Herausgeber von Kramers Ergot, dem interessantesten und ambitioniertesten Magazin auf dem US-Comicmarkt. In den zehn Ausgaben der Anthologie waren bei durchgehend extrem hohen Niveau so gut wie alle aktuellen berühmten bis legendären Künstler der US-Independentszene vertreten, etliche weniger bekannte und sogar einige europäische.

Die Reihe war eher experimentell ausgerichtet, teilweise sogar formal: Eine Ausgabe hatte das US-Sontagsseitenformat, was unter anderem interessant war, weil deutlich wurde, wer in der Lage ist, aus einer besonderen Herausforderung etwas zu machen, Chris Ware zum Beispiel, Matt Groening oder Tom Gauld, während einigen anderen gar nichts dazu einfiel. Sammy Harkham schuf für den Band ein Blatt, das wie eine Seite aus der Sonntagsbeilage einer alten Tageszeitung aussah, was absolut passend war: Obwohl der in Los Angeles lebende Betreiber eines Buchladens ein großer Förderer experimenteller Comics ist, wirken seine eigenen Werke eher konservativ bis traditionell – zumindest auf den ersten Blick.


Sammy Harkhams erste große Graphic Novel Blood of the Virgin ist zu einem großen Teil geradlinig durcherzählt. Der Protagonist Seymour arbeitet Anfang der 70er-Jahre in LAs B-Film-Szene, wo er aus fragwürdigen Zelluloidschnipseln akzeptable Filme schneidet und schließlich von einem Produzenten die Chance bekommt, selber einen Film zu drehen. Das gestaltet sich selbstverständlich schwierig, was unterhaltsam anzusehen ist und auch für Lesende ohne große cineastische Kenntnisse viel bietet. Daneben hat Seymour eine Frau und ein kleines Kind, das viel Betreuung bedarf, was zu Spannungen zwischen dem Paar führt. Als Seymour eine Schauspielerin trifft, scheint sich eine Affäre anzubahnen, aber sobald es aussieht, als würde es ernst werden, passiert etwas, und so gilt der Satz mit X: War wohl nix.

All das nimmt etwa zwei Drittel des Buches ein und ist wunderbar zu lesen: Harkham stellt ebenso detailliert, kurzweilig und klug den Kampf zwischen Arbeit und Familie dar wie das Leben im mittleren Hollywood jenseits des Glamours und überhaupt den Alltag im LA der 70er-Jahre. Insbesondere die vielen sehr präzise beobachteten intimen Momente des überforderten Paares auf der einen Seite und die stets vage Annäherung des potenziellen Liebespaares auf der anderen Seite sind berückend emotional.


Dann die erste Irritation nach 130 zweifarbigen Seiten: eine abgeschlossene Geschichte in Farbe. Im Gegensatz zum Rest, der vor der Buchveröffentlichung in Harkhams Comicheft Crickets lief, erschien sie ursprünglich in Kramers Ergot, und auch wenn ich mir sicher bin, dass sich für ihren Einschub künstlerische Gründe herbeifantasieren ließen, glaube ich: Die Geschichte über einen Cowboy, der in Hollywood zum Star wird, war nah genug am Thema von Blood of the Virgin, um sie dort aufzunehmen – und was wäre sonst aus ihr geworden? Richtig so! Eine tolle Geschichte! Nennen wir sie einen Zwischengang.

Ebenso interessant ist der letzte Teil über Seymours Frau, die mit dem Kind in ihre Heimat Neuseeland reist, um ihre Familie und alte Freunde zu treffen. Nach einem Intro mit einer kurzen Holocaust-Strecke, die wirkt, als basiere sie auf Tatsachen, geht es um den Alltag im Neuseeland der 70er, das Harkham wie eine Insel unter Drogen imaginiert: Alle wirken leicht angeknallt und sprechen wie in einer psychedelischen Screwball Comedy. Lustig! Danach ist fast Schluss, die Liebe erringt noch einen Zwischensieg und Hollywood ist für’n Arsch – aber das ahnten wir schon.


Der klare Strich und die aufgeräumten Seiten machen den Band zu einem Lesevergnügen für alle, die an klug, empathisch und aufmerksam erzählten Geschichten und handwerklich fantastischem Artwork Freude haben – eine schöne, runde, gute Sache. Die auf den zweiten Blick erstaunlich modern ist: Das Verschwinden des Protagonisten, die eingeschobene Episode, kurze Subplots, Layouts, die flexibel den Anforderungen der Handlung folgen – das alles sind exzellent genutzte Taktiken des modernen Storytelling. Ja, Harkham ist eher konservativ, aber auf eine sehr aktuelle, letztlich wertkonservative Art: Wir müssen alles anders machen, damit das Gute so bleiben kann, wie es ist. Ich bin dabei!

[Peter Lau]

Abbildungen © 2023 Reprodukt / Sammy Harkham


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