Frisch Gelesen Folge 201: Soon

Eine Szene aus Soon: Mutter und Sohn. 

»Der Ort, den ihr sehen werdet, wurde nachgebaut. Er entspricht jedoch exakt dem Lebensstil jener Zeit. … Sein gesamter Energieverbrauch … entspricht für nur einen einzigen Tag dem jährlichen Elektrizitätsbedarf unserer Stadt.«


FRISCH GELESEN: Archiv


SoonDas Titelbild der Graphic Novel Soon.

Story: Thomas Cadène, Benjamin Adam
Zeichnungen: Benjamin Adam

Carlsen Comics
Hardcover | 240 Seiten | Farbe | 29,00 €
ISBN: 978-3-551-78760-6

Genre: Graphic Novel, Ökologie, Ethik

Für alle, die das mögen: Global 2000 (Umweltreport aus den 1970er Jahren), Nostradamus, Klimaschutz, tägliche Nachrichten über die Pandemie



Liest die gerade 18-jährige Greta Thunberg Comics, schreibt sie Comics oder beschäftigt sie sich überhaupt mit diesem Medium? Kaum vorstellbar, dass die junge Dame, die Anfang Januar Geburtstag hatte, dafür Zeit hat. Als Vorzeigeaktivsitin hat sie nachvollziehbar möglicherweise ganz andere Ansprüche und einen unvorstellbaren Terminplan, der es wohl kaum erlauben würde, diesen Schmöker von Thomas Cadéne und Benjamin Adam in aller Ruhe zu lesen. Und Soon ist ein Schmöker, der Zeit verlangt, der Ruhe voraussetzt, den Blick für mögliche Zukunftsszenarien öffnet und ein dauerhaftes schlechtes ökologisches Gewissen hinterlässt. Und das nicht nur auf den ersten Seiten, aus denen das Zitat stammt, das sich vornehmlich auf die bildgewaltigen Videoinstallationen des Times Square bezieht.

In der Zukunft ist der Times Square ein Museumsstück, bei dem ...
In der Zukunft ist der Times Square ein Museumsstück, bei dem ...


Ist Soon demzufolge der perfekte Lesestoff für den Jahreswechsel, die Winterzeit und den Lockdown, der durch die beschriebenen Szenarien nur eine ganz logische Folge unverantwortlichen Handels der Menschheit ist?

Die Frage muss wohl jeder für sich beantworten, denn das Werk ist so komplex, dass es nur mit genügend Zeit, Geduld, logischem Denken und einer Prise Verstand nachvollziehbar wird. Aber worum geht es eigentlich?

... das Licht erst angeknipst werden muss.
... das Licht erst angeknipst werden muss.


Im Jahr 2151 soll die Weltraummission SOON 2 auf dem Lichtjahre entfernten Exoplaneten Proxima Centauri b nach Alternativen für das Überleben der Menschheit suchen. SOON 2 ist die Nachfolge der ersten Mission aus dem Jahr 2034, die die Kolonisation des Mondes zur Aufgabe hatte. Aber in dieser Zeit hat sich das Leben auf dem Planeten Erde – nicht nur aufgrund der Folgen des damaligen Mondfluges und der sich daraus ergebenden Querelen – dramatisch geändert: Umweltkatastrophen aufgrund elf bisher nie gekannter und gewaltiger Stürme, eine weltweite Grippewelle, die erst zum Kampf und schließlich zum Krieg um den Impfstoff führte und in einer Neuordnung der Gesellschaft, des Kontraktes, mündete. Der Krieg forderte fast eine Milliarde Opfer, die gesamte Zerstörung des klimatischen Gleichgewichts führte zur Reduktion der Menschheit auf gerade noch 800 Millionen, da ihre Fortpflanzungsfähigkeit verlorenging. 88 Prozent der gesamten Erdoberfläche werden auf Grundlage des Kontraktes der Natur überlassen, die restlichen zwölf Prozent werden vom überwiegenden Teil der Menschheit in sieben Städten bewohnt, die nach unterschiedlichen Schemata erbaut wurden und weitestgehend autark sind. Nur ein paar Unbelehrbare, Ewiggestrige und Menschen, die alles infrage stellen, ziehen sich in die verbotene Zone zurück.

Alles hängt von der Weltraummission SOON 2 und ihrer Kommandantin Simone Jones ab.
Alles hängt von der Weltraummission SOON 2 und ihrer Kommandantin Simone Jones ab.


Simone Jones soll als Kommandantin die SOON 2 auf ihrer Mission begleiten, eine Mission, von der sie aufgrund der erforderlichen Zeit nicht zurückkommen wird. Aus diesem Grund will sie mit ihrem Sohn Juri gemeinsam ein letztes Mal die sieben Städte besuchen und ihm den Sinn und Zweck der Reise, der Ordnung der Gesellschaft und des Kontraktes erklären.

Auf dieser Reise macht Juri die Bekanntschaft mit den unterschiedlichen Überlebensmodellen der Städte aber letztlich auch zufällig mit einigen der Unbelehrbaren und gerät dabei mehr und mehr ins Grübeln.

Eine der sieben Städte, die Simone und Juri bereisen: New Cape Town im Jahr 2151.
Eine der sieben Städte, die Simone und Juri bereisen: New Cape Town im Jahr 2151.


Das ist jetzt wahrscheinlich ein bisschen viel Inhaltsangabe, aber das ist auch notwendig – nicht nur weil Soon ein wirklich dickes Buch ist, sondern auch weil das Szenario doch ziemlich komplex ist.

Für Simone Jones ist SOON 2 eine unabdingbare Folge historischer Ereignisse. Und die haben für sie nicht erst mit SOON 1 und der weiteren Entwicklung begonnen, sondern eigentlich schon mit dem Urknall, der Entstehung der Menschheit und den ersten Ausflügen ins All bis hin zur Mondlandung 1969.

So ist Soon nicht nur eine prophetische Anklageschrift, die auf eine zukünftige wirtschaftliche, kulturelle und ökologische triste Zukunft hindeutet, sondern auch ein Geschichtsbuch. In gesonderten Artikeln wird die Vergangenheit (bzw. für uns die Zukunft der nächsten 130 Jahre) beschrieben. Das ist dann wirklich ein bisschen oberlehrerhaft und sieht fast wie ein ausführlicher Wikipedia-Eintrag aus. Die Geschichte wird dadurch immer wieder unterbrochen und führt dazu, den Comic einfach mal wegzulegen und später weiterzulesen. Aber auch das ist schwierig, ist der Faden mal weg, fängt man wieder von vorn an – zumindest war es bei mir so.

Soon ist auch ein Geschichtsbuch, das die Geschichte der Menschheit erzählt.
Soon ist auch ein Geschichtsbuch, das die Geschichte der Menschheit erzählt.


Angesichts der eher düsteren Aussichten hat sich die Lektüre bei mir merklich immer mehr dahingeschleppt. Und wem das noch nicht reicht, der sollte sich parallel die täglichen Nachrichten ansehen bzw. anhören.

Soon ist leider auch keine zeichnerische Offenbarung, auch wenn Stil und Farbgebung durchaus dem Thema angemessen sind. Die unterschiedlichen Zeitebenen – Geschichtsbuch, Vergangenheit und aktuelle Lehrstunde von Simone Jones für ihren Sohn – sind optisch und farblich voneinander abgehoben. Die Orientierung wird dadurch natürlich vereinfacht, das Lesevergnügen eher nicht.

Zwischenstopp: Auf ihrer Reise machen Simone und Juri an dieser Gedenkstätte halt.
Zwischenstopp: Auf ihrer Reise machen Simone und Juri an dieser Gedenkstätte halt.


Soon ist sicherlich absolut zeitgemäß, Soon ist aber keine kurzweilige Unterhaltung, sondern eher Lehrbuch und Warnung zugleich. Einer Zeit gemäß zu sein, ist ja auch ein sehr guter Ansatz, bei der aktuellen Paranoia um Infektionen, Impfstoff und negativen Aussichten, macht diese Geschichte noch mehr Angst und vermittelt wenig Hoffnung – gerade in Hinsicht aktueller politischer Verwerfungen, die in einem globalen Zusammenhang nicht zu unterschätzen sind.

Eine Beurteilung fällt mir wirklich schwer, hin und hergerissen zwischen der Notwendigkeit, auf die Probleme hinzuweisen und ambivalent bezüglich Aktualität, Horrorszenario und einer Hoffnungslosigkeit, die derzeit niemand benötigt.

Vielleicht wäre es dieser Tage angebracht, wieder auf die alten Carl-Barks-Storys zu schauen, … und einfach mal die positiven Dinge zu sehen.

Und um noch einmal auf Greta Thunberg zurückzukommen, ich habe ja mehr Zeit, aber einfacher wird die Lektüre dadurch auch nicht.

[Stephan Schunck]

Abbildungen © 2020 Carlsen Verlag GmbH / Benjamin Adam


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