Frisch Gelesen Folge 226: Der ferne, schöne Klang


 

»Mm. 25 Jahre lang habe ich Gott in der Abstinenz gesucht und jetzt finde ich ihn in einem Himbeersorbet.«
»Darf ich mal kosten?«
»Hier.«
»Nein ... auf deinen Lippen.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Der ferne, schöne Klang

Story: Zep
Zeichnungen: Zep

Schreiber & Leser
Hardcover | 80 Seiten | Farbe | 19,80 €
ISBN: 978-3-96582-060-9

Genre: Graphic Novel

Für alle, die das mögen: Comics von Bastien Vivès und Manuele Fior


Erotisch zu erzählen, ohne plakativ pornografisch, notgeil voyeuristisch oder altherrenfantasielos zu werden, ist eine große Kunst. Philippe Chappuis beherrscht sie aus dem Effeff. Dabei handeln seine Comics in der Regel von ganz anderen Dingen ...


Philippe Chappuis' berühmteste Figur: der freche Titeuf, hier in Album Nr. 2 aus dem Jahr 2001.


In der Neunten Kunst ist der Schweizer unter seinem Pseudonym Zep und für seinen kleinen Helden Titeuf bekannt. Dessen episodisch erzählte Missgeschicke sind ein Millionenseller und diesseits der Alpen bei Carlsen zu Hause. Zeps humoristische Betrachtungen von Liebesbeziehungen – sei es die Liebe zum anderen Geschlecht in Happy Girls und Happy Sex, die Liebe zu den eigenen Kindern in Happy Parents oder die Liebe zur Musik in Happy Rock – sind wiederum beim toonfish-Imprint des Bielefelder Splitter Verlags zu finden. Was Titeuf und die Happy-Comics eint: Darin geht es weniger erotisch, sondern sehr frivol zu; mal aus einer prä-, mal aus einer postpubertären Perspektive. Vielleicht sind sie gerade deshalb so beliebt, weil uns die Pubertät unser Leben lang begleitet.


Eine Episode aus Happy Sex 17,5; in Deutschland 2010 bei toonfish erschienen.


Weit weniger bekannt ist Zeps ernste Seite. Neben Splitter (Esmera, 2016) hebt vor allem der Hamburger Verlag Schreiber & Leser diese Facette aus Zeps Werk in sein Programm. Nach Paris 2119, einem düsteren Zukunftsszenario, das Dominique Bertail gezeichnet hat, und der komplett in Eigenregie erstellten Dystopie The End bekommt Zeps bis dato bester Comic endlich eine deutsche Übersetzung. Im Original ist die Graphic Novel beim Pariser Verlag Rue de Sèvres bereits 2016 und damit zwei Jahre vor The End erschienen. Wie so oft bei Zep ist auch Der ferne, schöne Klang kein Comic über Erotik, sondern – nicht nur, aber eben auch –: ein erotischer Comic.


Das Klosterleben scheint aus der Zeit gefallen: Von einstmals 70 Geistlichen sind nur neun geblieben.


Zep erzählt die Geschichte eines Kartäusermönchs. Bruder Marcus, der mit bürgerlichem Namen William heißt, lebt zurückgezogen im Kloster La Valsainte im Schweizer Kanton Freiburg. Dort hat er nicht nur allen weltlichen Versuchungen und Genüssen, sondern auch der Sprache entsagt. In diesem selbstgewählten Gefängnis der Stille wird jedes Geräusch zu einem sinnlichen Erlebnis. Derweil wird eine Wanderung durch die Natur für uns Lesende zu einer Übung in Enthaltsamkeit, sind Zeps Panels doch jedes überflüssigen Details entleert und nur von Bruder Marcus' Gedanken zusammengehalten.


Eine Übung in Stille: Marcus und ein Mitbruder wandern in den Bergen.


Als Bruder Marcus eine Erbschaft macht, wird er aus seiner Zelle entlassen. Sein Abt schickt ihn hinaus in die Welt, nach Paris, um das Erbe anzutreten. Denn das Kloster braucht dringend Geld für ein neues Dach. Wenn der Himmel weint, werden selbst Gottes frömmste Schäfchen nass. Dieser Wiedereintritt in die Zivilisation ist eine audiovisuelle Überwältigung. Marcus, in der säkularen Welt nun wieder als William unterwegs, muss den Umgang mit der Welt, der Sprache, den Frauen erst wiedererlernen. Zep setzt dieses Erinnern behutsam und ganz anders als in seinen komischen und quietschbunten Comics in gedeckten Farben in Szene. Wie er überhaupt – dem Charakter seines Protagonisten entsprechend – ruhig und bedächtig erzählt.


Wunderbare Bildsprache: Bruder Marcus muss seine Stimme erst wiederfinden.


Vor der Folie eines Mannes, der der Welt vor 25 Jahren den Rücken gekehrt hat und für einen kurzen Augenblick in diese zurückkehrt, entspinnt Zep eine unsagbar vielschichtige Geschichte. Es geht um gesunde und sehr ungesunde Familienverhältnisse, um Abstinenz und Genuss, um Liebe und Sex, um Krankheit, Vergänglichkeit und Tod, um Gott und die Welt und darum, wie der Glaube und die Kunst uns trotz all der Unzumutbarkeiten des Lebens Trost spenden können.

Der ferne, schöne Klang ist ein Comic über eine furchtbar laut gewordene Welt, die so furchtbar wenig zu sagen hat und ein Comic darüber, wie viel dagegen in einem Schweigen stecken kann. Ein Comic über Menschen, die niemals allein, aber zutiefst einsam sind und über einen Mann, der in seiner selbstgewählten Einsamkeit niemals allein ist.


 Erotik des Augenblicks: Auch den Umgang mit Frauen muss Marcus erst wiedererlernen.


Wie Zep all das, wofür andere mehrere Alben bräuchten, auf nur 80 Seiten packt, ohne zu quetschen, zu hetzen oder zu langweilen, ist meisterhaft. Die Gegenwart und die Erinnerung an die Vergangenheit gehen fließend ineinander über. Zeps Geheimnis liegt in den Gesprächen und in den Blicken seiner Figuren. Die Blicke sind sehnsuchtsvoll, aber nie anzüglich. Die Körper, auf die sehnsuchtsvoll geblickt wird, sind nicht übertrieben schön. Sie haben Falten, Fettpölsterchen und kleine Fehler und sind gerade dadurch attraktiv. Und seinen Figuren legt Zep so tolle Dialoge wie den eingangs zitierten in den Mund. Ein nachdenklicher, lebensbejahender Comic – so fern, so nah, so wunderschön.

[Falk Straub]

 

Abbildungen Der ferne, schöne Klang © 2016 Rue de Sèvres, 2021 Schreiber & Leser / Zep
Abbildungen Titeuf © 2001 Carlsen / Zep
Abbildungen Happy Sex © 2010 toonfish (Splitter) / Zep


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Oder beim Verlag: Schreiber & Leser