Frisch Gelesen Folge 327: Corto Maltese Band 16: »Nacht in Berlin«

»Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich, mir würden nicht dauernd unglaubliche Dinge passieren.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Corto Maltese Band 16: »Nacht in Berlin«

Story: Juan Díaz Canales
Zeichnungen: Rubén Pellejero

Schreiber & Leser
Hardcover | 88 Seiten | s/w | 24,80 €
ISBN: 978-3-96582-108-8

Schreiber & Leser
Hardcover | 88 Seiten | Farbe | 24,80 €
ISBN: 978-3-96582- 088-3

Genre: Abenteuer, Historie, Mystizismus

Für alle, die das mögen: Babylon Berlin, alte Filme, M – Eine Stadt sucht einen Mörder, Geheimbünde



Spätestens seit Band 13 der Corto-Maltese-Gesamtausgabe »Unter der Mitternachtssonne« haben wir gelernt, dass dieser Comic auch ohne Hugo Pratt funktioniert. Während Pratt in Personalunion als Szenarist und Zeichner arbeitete, ergänzen sich Juan Díaz Canales (Texte) und Rubén Pellejero (Zeichnungen) auf kongeniale Art und Weise und lassen so eine der schillerndsten und geheimnisvollsten Figuren der Neunten Kunst nicht nur weiterleben, sondern führen sie zu völlig ungewohnten und überraschenden geografischen und historischen Schauplätzen. Die aktuellen Schauplätze und ihre Protagonisten werden im Vorwort des französischen Literaturwissenschaftlers Jean-Yves Marie Tadíe eingeordnet und sortiert und sollen hier nur – wenn notwendig – wiederholt und ergänzt werden. Begeben wir uns also direkt in das Berlin der Zwanzigerjahre, in die Nachkriegszeit, die Zeit der Weimarer Republik, die Ära, in der sich Reichspräsident Friedrich Ebert vergeblich bemüht, die aufziehenden politischen Bedrohungen von links und rechts, den Kommunisten und Faschisten, gegen die junge deutsche Republik zu verteidigen.

In diesem politischen Tohuwabohu taucht Corto Maltese in Berlin auf und muss feststellen, dass sein langjähriger Freund Professor Jeremiah Steiner ermordet wurde. Begleitet von dem gar nicht so fiktiven Journalisten und Buchautor Joseph Roth versucht er, den Hintergründen dieser Gräueltat auf die Spur zu kommen. Dabei gerät Corto zwischen alle Stühle: zwischen die Organisation Consul – eine rechtsextremistische Geheimgesellschaft, die die Republik zerstören will –, die mystische Vereinigung Stella Matutina – ein Haufen von Esoterikern, die in einer Wunderwelt magischer Rituale leben und mit denen Steiner vor seinem Ableben oft Kontakt hatte –, die KPD, das aufkeimende Berliner Nachtleben und nicht zuletzt einen Friedrich Ebert, der an ein Land der großen Dichter und Denker glaubt. Letztendlich geht es um die Rathenau-Papiere, ein Dossier, in dem der ebenfalls ermordete Außenminister Rathenau die Machenschaften der Organisation Consul beschreibt und die daraus resultierende Gefahr erkannte. Diese Papiere führen Corto nach Prag und zu einer Begegnung mit der mystischen Figur des Golems; aber auch da dauert es, bis er die Zusammenhänge wirklich erkennt.

Eine Rezension ist ja keine Nacherzählung der gelesenen Geschichte, deshalb soll der Rest der Handlung nicht weiter strapaziert werden – auch wenn die Suche nach einer verschollenen Tarot-Karte des Visconti-Sforza-Trionfi-Kartensatzes eine nicht ganz unwichtige Rolle spielt und der Handlung den notwendigen magischen Anstrich einer Corto-Maltese-Geschichte verleiht.

Canales und Pellejero haben Corto Maltese hier perfekt in ein politisch verzwicktes Umfeld (um es mal harmlos auszudrücken) und von Antisemitismus geprägtes Szenario versetzt. Als Gegenparts liefern sie Roth, Professor Steiner und den Golem mit jüdischem Hintergrund. Die aufziehende Gefahr ist erkannt (im Nachhinein sicherlich etwas einfacher nachzuvollziehen), offen bleibt eigentlich nur, warum es zu dieser Zeit möglicherweise aussichtslos war, dagegen anzukämpfen. So entlässt Corto Maltese den Leser in die nächste Geschichte mit der Ungewissheit, »… ob Magie noch heute wirkt. Die Zeiten sind hart für Zauberer. Es sind überhaupt harte Zeiten«.

Was macht ein Seemann in Berlin und in Prag? Der Protagonist wirkt ein wenig wie ein Fremdkörper in einer Zeit, die sich weiterentwickelt hat. Corto in einem Berliner Nachtclub, umgeben von aufstrebenden Persönlichkeiten wie Marlene Dietrich und Max Schmeling, Corto in der Verkörperung Satans als Aushilfsschauspieler, das sind schon ungewohnte Bilder und Szenen. Die historische Entwicklung kann er nicht aufhalten und möglicherweise wird das ein Wegweiser für die nächsten Geschichten. Corto Maltese im Zweiten Weltkrieg, in der Schweinebucht, im Vietnamkrieg, … da fallen einem ja noch viele Möglichkeiten ein. Corto Maltese ist ein Anachronismus und mutiert zu einer Art Forrest Gump der Neunten Kunst, der uns hoffentlich noch lange erhalten bleibt.

Und noch ein Wort zu den Zeichnungen von Rubén Pellejero. Vielleicht fällt es manchen Zeichnern schwer, einen anderen zu adaptieren. Corto vor und nach Pratt ist einfach ein nachhaltiger Genuss, Pellejero lässt die Figur weiterleben, wie man sie von Pratt kennt. Das steht ganz im Gegensatz zu Corto Maltese: »Schwarzer Ozean« von Bastien Vivès und Martin Quenehen, auch schön, gut, aber kein Vergleich und eher ein Versuch die Figur des Corto Maltese zu relaunchen, wie man es aus den Marvel und DC Comics kennt.

»Nacht in Berlin« gibt es wie üblich in der Gesamtausgabe in Schwarzweiß und in einer farbigen Version. Ich habe die schwarzweiße gelesen, kann zur farbigen also nur so viel sagen, dass in den verschiedenen Rezensionen zu diesem Band auf die extreme Farbigkeit hingewiesen wird.

Auch Band 16 der Gesamtausgabe ist ein echter Hingucker, dem man sich nicht entgehen lassen sollte. Wie üblich sollte man aber auch die Muße haben, die Geschichte in Ruhe zu lesen und den einen oder anderen Hintergrund zu recherchieren.

[Stephan Schunck]

Abbildungen © 2022 Schreiber & Leser / Juan Díaz Canales, Rubén Pellejero


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