Frisch Gelesen Folge 229: Stumptown 1

Riskiert schon mal ein blaues Auge: Dex Parios, die Protagonistin des Comics Stumptown.
»Wissen Sie, wer ich bin?«
»Sie sind Hector Marenco.«
»Ich habe gefragt, ob Sie wissen, wer ich bin.«
»Sie sind der siebtreichste Mann in Oregon.«
»Und?«
»Einigen Leuten zufolge sind Sie der Boss der MS-13 im Nordwesten.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Stumptown Band 1: »Der Fall des Mädchens, das sein Shampoo mitnahm (und seinen Mini zurückließ)«Das Titelbild des ersten Bands von Stumptown.

Story: Greg Rucka
Zeichnungen: Matthew Southworth

Splitter
Hardcover │ 160 Seiten│ Farbe │ 24,00 €
ISBN: 978-3-96792-026-0

Genre: Krimi

Für alle, die das mögen: Krimis um verschmitzte, zum Teil aber auch zynische und pessimistische Protagonisten. Fernsehbeispiele: Jesse Stone (Tom Selleck) oder die actionreiche und humorige Serie Detektiv Rockford – Anruf genügt (James Garner).



Dex C. Parios ist Privatdetektivin und erledigt Aufträge in und um Portland, Oregon, das von seinen Einwohnern manchmal auch »Stumptown« genannt wird. »Stumptown« (auf Deutsch: »Baumstumpfstadt«) ist ein Begriff, der nach 1847 geprägt wurde, als der noch junge Ort so schnell wuchs, dass zunächst keine Zeit blieb, die bei der Holzgewinnung übrig gebliebenen Baumstümpfe aus dem Stadtbild zu entfernen. Auch der Name der Protagonistin ist ein Spitzname. Dex steht für Dexedrine, was bei Zusammenstößen mit Ordnungshütern für einseitig unterhaltsame Momente sorgen kann. Denn nein, das C. in Dex C. Parios steht nicht für Codein, sondern für Callisto. Ob der Name vom Jupiter-Mond oder etwas anderem inspiriert wurde, wird in diesem Band allerdings nicht verraten.

Eckt öfter an: Dex gerät nicht nur mit Streifenpolizisten, sondern auch auf dem Revier mit Beamten aneinander.
Zusammenstoß mit Ordnungshütern: Auf dem Revier hat Dex nicht nur Freunde.


In seinem über vier Seiten gehenden Vorwort bezeugt Comicautor Matt Fraction (Uncanny X-Men, Hawkeye u.a.) seinem Kollegen Greg Rucka seine Ehrerbietung und drängt dem Leser denkbare Vergleiche mit der TV-Krimi-Serie Detektiv Rockford förmlich auf. Stumptown hat damit aber nichts zu tun, ist weder ein Aufguss noch eine Hommage. Allerdings spickt Greg Rucka seine Story mit Elementen, die Fans von Detektivgeschichten sehr mögen. Etwa fiese, trockene Sprüche, ähnlich wie »Oh, ich glaube, da ist ein Loch« – selbstverständlich, bevor das Wagenverdeck aufgeschlitzt wird oder das mit unbezahlten Parkstrafzetteln chronisch überfüllte Handschuhfach. Nicht zu vergessen der »gute Freund« bei der Polizei, der für Infos gut ist, sowie der Umstand, dass die Ermittlerin im Präsidium nicht überall gern gesehen ist. Der Titel des ersten Bands ist irritierend und verblüffend lang, passt aber zu dem Ganzen wie die Faust aufs Auge. Das stattliche Hardcover bietet viel Lesestoff und enthält Dex' ersten Fall, der in Amerika 2009 über vier Hefte lief.

Und spielt gern: Ihre Freizeit verbringt Dex mit Vorliebe im Casino.
Dex in ihrer Freizeit: spielbegeistert oder spielsüchtig?


Dex ist also eine »Schnüfflerin« und da sie in ihrer Freizeit liebend gern dem Glücksspiel nachgeht, grundsätzlich knapp bei Kasse. So kann sie sich nicht immer alle Aufträge aussuchen. Eines Tages wird sie nach einem weiteren verlorenen Spiel zu Sue-Lynne, der Chefin ihres Lieblingscasinos zitiert und erhält die Chance, ihre Schulden abzuarbeiten. Sie soll Charlotte, Sue-Lynnes verschwundene Enkelin finden. Eben jene mit dem mitgenommenen Shampoo und dem zurückgelassenen Mini. Oder aber knapp 18.000 Dollar ziemlich schnell auf den Tisch legen. Dex nimmt den Auftrag zähneknirschend an, bekommt aber immerhin 1.000 Dollar als Spesenausgleich. Der Fall wird schnell gefährlich. Zwei Grobiane verdeutlichen ihr rabiat, dass sie sich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute einmischen soll. Den Rat beherzigt sie natürlich nicht, trotz einiger Blessuren. Als danach aber zwei weitere Schläger auftauchen – ebenfalls kräftig, nur viel, viel besser gekleidet –, wird es interessant. Dex wird zum Unterweltboss Marenco geführt, der sie »bittet«, Charlotte ebenfalls zu finden – und danach als erstes ihn anzurufen. Was selbstverständlich nicht passieren wird. Und der Leser fragt sich, wie es Dex gelingen mag, sich aus dieser vermeintlich ausweglosen Situation zu befreien.

Immer in Gefahr: Dex fängt sich zwei Kugeln ein.
Aufrüttelnde Action: Dex fängt sich zwei Kugeln ein.


Das alles passiert, noch bevor Dex an einem Flussufer mit zwei Kugeln niedergestreckt wird. Eben jene aufrüttelnde Actionsequenz, mit der dieser Comic beginnt. An dieser Stelle die erlösende Info an alle, die Rückblenden aus den verschiedensten Gründen nicht mögen: Rucka verstrickt sich nicht im Gewirr der Zeiten, sondern hat, nachdem alles erzählt wurde, seinen Handlungsstrang souverän im Griff!

Matthew Southworths Zeichnungen erinnern entfernt an Klassiker wie Modesty Blaise oder Rip Kirby, bei denen die Panels ebenfalls viele schwarze Flächen enthalten. Außerdem wirkt die Grafik wie ein wenig gehetzt aufs Papier geworfen, sodass die realistisch gestalteten Illustrationen auch abstrakt erscheinen. Die eigentümlich einfühlsame Kolorierung – auf den Seiten sind oft nur zwei oder drei Farbtöne zu sehen – untermalt die jeweilige Stimmung, sorgt aber auch dafür, dass der Comic trotz des Farbenspiels über weite Strecken monochrom erscheint.

Und immer auf der Lauer: Dex bei der nächtlichen Beschattung.
Eines der vielen Stimmungsbilder: nicht wirklich monochrom – die Stadt bei Nacht.


Da Ruckas erster Comic überhaupt, Whiteout (1998), etwa zehn Jahre später mit Kate Beckinsale verfilmt wurde, ist es nicht weiter überraschend, dass Stumptown 2019 beim TV-Sender ABC in Serie ging. Jedoch: Die erste Folge ist nur nach Motiven der Comicvorlage gestrickt. Einiges kommt einem bekannt vor, vieles nicht. Die Hauptrolle übernahm Cobie Smulders, die bei uns durch die Comedyserie How I Met Your Mother bekannt ist und in den Marvel-Avengers-Filmen als S.H.I.E.L.D.-Agentin Maria Hill sowie neben Tom Cruise in Jack Reacher: Kein Weg zurück zeigte, dass sie Actionrollen sehr gut ausfüllen kann. Leider wurde Stumptown im Zuge der Corona-Pandemie nach einer Staffel mit 18 Episoden im Herbst 2020 abgesetzt, trotz zugesagter Verlängerung. Ob es eine Fortsetzung bei einem anderen Kanal geben wird, ist bis heute nicht bekannt.

Gute Werbung: Eine Seite aus dem Anhang des Comics zeigt Dex' Anzeige in den Gelben Seiten.
Ebenfalls stimmungsvoll: Dex' Werbung in den Gelben Seiten.


Wer bisher nur die TV-Serie gesehen hat und actionreiche Krimi-Unterhaltung schätzt, der darf guten Gewissens zur Ursprungsserie in Comicform greifen. Der zweite Band ist bei Splitter bereits für Herbst dieses Jahres angekündigt, der dritte Band soll Frühjahr 2021 kommen und ein letzter vierter wird folgen.

[Walter Truck]

Abbildungen © 2021 Splitter / Greg Rucka, Matthew Southworth


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