Frisch Gelesen Folge 312: Besondere Momente mit falschem Applaus


 »Jedenfalls ist da dieser Typ, der ein schwarzes Auto gemietet hat, um seine sterbende Mutter zu besuchen. Er verbringt einige Tage mit ihr, doch sie erkennt ihn nicht mehr. Manchmal wirkt sie, als sei sie schon gestorben. Manchmal wirkt sie, als ob sie schliefe. Manchmal steht ihr Mund offen, an der Unterlippe eine kleine Wunde, vom letzten verbliebenen Zahn. Der Mann sitzt an ihrem Bett, ohne ein Wort an sie richten zu können. Hin und wieder ist er auf Twitter und lacht vielleicht über den Kommentar eines Followers zu einer seiner schlauen oder witzigen Provokationen. Dann geht er, fährt zurück in sein Zimmer im Bed and Breakfast, hält unterwegs an, geht zum Flussbett hinunter, und in diesem Bett ertränkt er sich.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Besondere Momente mit falschem Applaus

Story: Gipi
Zeichnungen: Gipi

avant-verlag
Hardcover | Farbe | 176 Seiten | 30,00 €
ISBN: 978-3-96445-077-7

Für alle, die das mögen: Eine Geschichte (Gipi), The End (Anders Nilsen) Acting Class (Nick Drnaso)



Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen. Im Comic bedeutet das häufig Kostümwechsel, Einsatz von Photonenkanonen oder einen Besuch bei einem Informanten am Rande der Stadt. Im wirklichen Leben ist es allerdings meist anders, denn da haben besondere Situationen nur selten etwas mit kostümierten Schurken, intergalaktischen Raumflotten oder unerklärlichen Todesfällen zu tun. Stattdessen geht es um emotionale Ausnahmezustände, um echte Liebe und wirklichen Tod, also um Momente, mit denen umzugehen schwer ist. Natürlich gibt es auch Comics, die sich damit beschäftigen, aber von ein paar ruhmreichen Ausnahmen abgesehen (zum Beispiel von Anders Nilsen) wirkt deren Einfallslosigkeit leider oft, als würden sie vor allem die Angst vor einem langen Blick in den Abgrund spiegeln.

Gipi geht es natürlich nicht so. Der Italiener schaut seit Jahrzehnten in jeden Abgrund, der nicht bei drei auf den Bäumen ist (ist das nur eine schlechte Metapher oder erstes Anzeichen einer nahenden Geisteskrankheit?), seine Protagonisten sind so gut wie immer seelisch stark ramponierte Männer am Rande des Untergangs oder dahinter (die zudem wirken, als seien sie Alter Egos des Künstlers), und seine Geschichten hinterlassen selbst bei scheinbaren Happy Ends ein vages Gefühl der Beklemmung. Das ist auch diesmal nicht anders. Wer also heute seinen Happy-Einhorn-Day hat, sollte jetzt hier rechts auf eine andere Rezension klicken.

 

Jedenfalls geht es diesmal um einen Mann, der seine Mutter besucht, die im Sterben liegt etc., das Zitat oben gibt die Grundkonstellation des Buches ganz gut wieder. Der Mann ist angemessen verzweifelt, aber zeigt es natürlich nicht, weil Mann. Stattdessen ertränkt er sich und sinniert über das Wasser, die Ewigkeit und so, kehrt zurück nach Hause, wo er dabei zusieht, wie er als kleiner Junge seiner Mutter bei einer Migräne hilft, irrt mit einer Raumfahrermannschaft über einen fremden Planeten, den sie nicht mehr verlassen können, und fährt mit dem kleinen Jungen, der er einst war, durch die Gegend. Das sind die besten Szenen: Wenn sich der Alte und der Junge unterhalten und der Junge es einfach besser weiß, so wie Kinder Dinge eben besser wissen, nicht eingebildet, sondern tatsächlich.

Jedenfalls ist der Mann auch noch Komiker, vergisst aber einen Auftritt, weil doch seine Mutter im Sterben liegt, doch sein Agent erinnert ihn daran, und dann fährt er hin, steht da auf der Bühne, einer der besten Stand-up Comedians, wie es im Verlauf heißt, und sagt: »Entschuldigt die Verspätung. Ich war im Hospiz. Bei meiner Mutter, die liegt im Sterben. Nicht gerade der beste Einstieg für einen Komiker. Ich muss gestehen, weil meine Mama stirbt, hab ich diesen Auftritt vergessen. Als ich hergerast bin, habe ich an der Raststätte angehalten und ein paar Notizen gemacht. Aber dann dachte ich an meine Mama, die im Sterben liegt und hab den Zettel liegen gelassen. Passiert.« Ja, klingt nach einem nicht so guten Abend, aber irgendwie kriegt er die Kurve, es geht dann ums Squirting. Profi eben.

 

Visuell ist Gipi mittlerweile eine Klasse für sich. Der Italiener ist fast 60, zeichnet seit etwa drei Jahrzehnten Comics und kann alles. In diesem Buch hat jeder Erzählstrang einen eigenen Stil, was auch besser ist, weil die Orientierung sonst schwierig wäre. Es gibt die Hauptgeschichte des Mannes und seiner sterbenden Mutter im typischen Gipi-Stil, mit leicht zerfetzen Strichen und verwaschenen Farben. Ab und zu fährt der Mann einfach nur rum, das ist aquarelliert und sehr schön – am Ende gibt es ein paar fast konturlose Aquarelle, die schon alleine das Buch lohnen. Dann sind da die Raumfahrer auf ihrem elenden Planeten in Schwarzweiß, Bleistift, wild gestrichelt, wie in der Klapse, kurz bevor das Licht gelöscht wird (21.30 Uhr). Und ein paar erzählte Erinnerungen in merkwürdig entspanntem Schwarzweiß, das andeutet, wie wenig die Gefühle des Mannes in seinen Berichten vorkommen. Vielleicht. Außerdem ein Urmensch, ein Tag am Strand et cetera.

Und alles sieht fantastisch aus. Am besten haben mir die Seiten gefallen, auf denen sich die unterschiedlichen Erzählebenen treffen und dabei auch verschiedenen Zeichenstile.

 

Jedenfalls beginnt jeder längere Zwischentext in diesem Buch mit »Jedenfalls«, weshalb ich das hier auch mache, aber wenn das alles wäre, was ich daraus gelernt hätte, würde ich den Band nicht empfehlen. Tu ich aber. Eines der Bücher des Jahres. Warum? Nun, es gibt zum Beispiel einen weiteren Auftritt des Komikers: Wieder liegt Mama im Sterben, aber es ist ein anderer Club, wo es eingespielte Lacher und Fake-Applaus gibt, falls das Publikum nicht in Stimmung ist. Und bevor der Auftritt beginnt und der Mann loslegt mit der sterbenden Mutter und dem Squirting, klingelt sein Telefon und er erfährt, dass seine Mutter nun also gestorben ist, während gleichzeitig die künstlichen Lacher und der falsche Applaus laufen. Dann wird er auf die Bühne geschoben, und das ist ein so verzweifelter Moment, dass es fast lustig ist. Aber nur fast. Oder vielleicht doch? Lustig oder schrecklich? Schwer zu sagen.

Jedenfalls kann ich das nicht erklären, und ich wüsste auch nicht, wozu es gut wäre. Wer die Verzweiflung kennt und diese dünne Linie zwischen Lachen und Weinen, wer also weiß, wie weit es gehen kann, wenn es dich zerreißt, aber nicht genug, um wirklich zu sterben, sodass dir stattdessen ganz viele Dinge einfallen, um dich abzulenken (wie der kleine Junge dem großen Mann an einer Stelle erklärt), und wer sich deswegen für die endlosen Weiten der extremen Verzweiflung interessiert (denn kein Abgrund gleicht dem anderen), wird dieses Buch lieben. Wer dagegen keine Ahnung hat, wovon ich rede, auch für Lyrik nichts übrig hat und überhaupt sehr glücklich ist mit Disney+, sollte dagegen die Finger davon lassen und stattdessen einen Kostümwechsel erwägen. Jedenfalls wäre das besser.

[Peter Lau]

Abbildungen © 2022 avant-verlag / Gipi


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