»Wir hielten den Zeitpunkt für gekommen, um zu handeln. Der von Deutschland ausgegangene Krieg war inzwischen in Deutschland angekommen.«
FRISCH GELESEN: Archiv
Nieder mit Hitler! oder Warum Karl kein Radfahrer sein wollte
Story: Jochen Voit
Zeichnungen: Hamed Eshrat
avant-verlag
Softcover | 160 Seiten | Farbe, s/w | 20,00 €
ISBN: 978-3-945034-98-9
Genre: Historisch, Biographie
Für alle, die das mögen: biographische Graphic Novels wie Maus oder Der Boxer
Meine Magisterarbeit habe ich zu den Arbeits- und Lebensbedingungen an der Kriegsmarinewerft in Wilhelmshaven zwischen 1933 und 1945 geschrieben. Im Zuge meiner Recherchen hatte ich das große Glück noch mit Zeitzeugen – damals Lehrlinge – zu sprechen. De facto gab es auf der Werft trotz ihrer durchweg sozialdemokratischen oder kommunistischen Belegschaft keinen Widerstand. Einige Zeitzeugen berichteten mir von geheimen Morsezeichen, indem sie mit einem Stück Metall auf der Werkbank einen geheimen Code klopften. So wurde beispielsweise kommuniziert, wer »Feindsender« gehört hatte. Der größtmögliche Widerstand gegen das Dritte Reich – im Rückblick der Arbeiter. Da stellt sich mir die Frage, was ist und wann beginnt Widerstand. Der 20. Juli 1944 ist in Deutschland etwa vielen als historisches Datum bekannt. An diesem Tag verübte Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg im Hauptquartier der Wolfsschanze in Ostpreußen ein Attentat auf Adolf Hitler. Der Aufstand der Generalität gegen die Naziherrschaft, um größeren Schaden vom Deutschen Reich abzuwehren. Nicht etwa, um eine freie Gesellschaft im heutigen Sinn zu erwirken. Ich fand immer, dass in der Geschichtsschreibung Menschen wie beispielsweise Johann Georg Elser – Widerständler, die ohne jedes politische Kalkül einfach gegen die Diktatur vorgingen – zu wenig Beachtung geschenkt wurde.
Fünf mutige 15-Jährige aus Erfurt.
Jochen Voit hat sich einem solchen Kreis angenommen. Fünf 15-jährige Schüler aus Erfurt, jung, unpolitisch und ohne eine hinter ihnen stehende Ideologie, wollen einfach, dass der Krieg endlich ein Ende hat. Für sie stand fest: Hitler muss weg. Was danach kommt, interessierte sie nicht. Sie hatten keinen Entwurf für eine Gesellschaft nach dem Krieg. Sie hatten keinen großen Plan, wer welches Amt im Anschluss bekleiden sollte. Sie wollten einfach die Diktatur beenden. Dafür bedruckten sie Flugblätter an »Deutsche Männer und Frauen«. Ihr Plan war es, diese aus einer fahrenden Straßenbahn zu werfen, um so ihre Mitmenschen aufzuwecken. Allerdings wurden sie bereits kurz nach der Tat verraten. Ihnen wurde der Prozess gemacht. Aber wie durch ein Wunder, einerseits bedingt durch die Fürsprache eines Lehrers, andererseits sicherlich ihrer Jugend geschuldet, überlebten sie.
Flugblätter an »Deutsche Männer und Frauen«.
Voit, Leiter der Gedenkstätte Andreasstraße im ehemaligen Erfurter (Stasi-)Gefängnis, hat die Geschichte der Widerstandsgruppe um Jochen Bock, Karl Metzner, Gerd Bergmann, Helmut Emmerich und Joachim Nerke zunächst für eine filmische Dokumentation aufbereitet, um sie dann selber in einen Comic zu adaptieren. Hauptperson ist Karl Metzner, ein Junge, der alle politisch-erzieherischen Stationen des NS-Regimes durchlaufen hat, aber niemals seinen Glauben an Menschlichkeit verliert. Voit erzählt uns seine Geschichte und die seiner Freunde wie ein Historiker: ohne Betroffenheit, nüchtern, zurückhaltend. Voit stellt uns fünf Jungen vor, die ähnlich den Werftarbeitern in Wilhelmshaven zunächst über das Hören ausländischer Sender ins Grübeln kamen. Beeindruckend ist dabei, wie die Taten der fünf von einem anfänglichen Charme harmloser Lausbubenstreiche immer mehr in das gefährliche Fahrwasser einer Widerstandsgruppe gleiten.
Am Anfang noch Streiche junger Männer.
Die Stoßrichtung seines Comics ist klar: Voit will aufklären. Seine Erzählung, in der auch immer ein Schuss Pädagogik mitschwingt, wendet sich an Schüler und Jugendliche, die das gleiche Alter haben wie die fünf Widerständler. Ganz bewusst nutzt er das Medium Comic, um die Botschaften der Gruppe um Jochen Bock leicht verständlich verbreiten zu können. Hamed Eshrats Zeichnungen helfen ihm dabei. Der 1979 in Teheran geborene Künstler erschafft Bilder, die in ihrer Schlichtheit überzeugend sind. Fast habe ich den Eindruck, dass Voit und Eshrat in ihrem Werk als Künstler hinter die Botschaft ihres Werkes zurücktreten: Auch der Einzelne kann mit couragiertem Einsatz etwas ändern.
Der politische Protest reicht über das Dritte Reich hinaus.
Der Band hat für mich einen ganz großen Gänsehautmoment – auf den letzten redaktionellen Seiten, wenn die unglaubliche Botschaft dieses Buches noch einmal wiederholt wird: Alles ist wahr! Denn dort stellen die Künstler die realen fünf Jungen vor und was aus ihnen geworden ist. Dass sie fast alle das Dritte Reich weit überlebt haben, lediglich Jochen Bock stirbt an den Folgen der Haft 1947, dass sie gekämpft haben, dass sie versucht haben, etwas zu ändern. Geschichte wird plötzlich so nah, wie damals, als ich mit den Werftarbeitern sprach.
[Bernd Hinrichs]
Abbildungen © 2018 avant-verlag
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