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Frisch Gelesen Folge 442: Am Anfang ist ein Strich

 

»Du hast es gut. […] Einfach irgendwohin fliegen und den Leuten neugierig ins Gesicht schauen. Ich mach so was nicht.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Am Anfang ist ein Strich

Story: Fumiko Takano
Zeichnungen: Fumiko Takano

Reprodukt
Hardcover | 208 Seiten | s/w | 20,00 €
ISBN: 978-3-95640-451-1

Genre: Josei-Manga, Kurzgeschichten

Für alle, die das mögen: Kurzgeschichten im Stil von Haruki Murakami, Erika Sakurazawa



Neben all der Exotik, die der Manga für die Leserschaft in Europa bot, ging eine besondere Faszination von dessen spezifischer Ausrichtung auf Zielgruppen aus. Denn während der europäische und amerikanische Markt über Jahrzehnte hinweg systematisch Mädchen und Frauen als Comicleserinnen ignorierten, ordnete der japanische Markt ihnen ganze Genres zu: den Shōjo-Manga und den Josei-Manga. Da in Deutschland Comics weiterhin primär der Kinderliteratur zugeordnet werden, richten sich die meisten hier erscheinenden Publikationen an Mädchen. Das Genre des Josei-Manga, japanische Comics, die sich an erwachsene Frauen richten, ist weiterhin eher unterrepräsentiert. Ausnahmen stellen z. B. die in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre bei Tokyopop verlegten Kurzgeschichten-Anthologien von Erika Sakurazawa dar.


Einfühlsame Einblicke in eine Kinderseele mit außergewöhnlicher Perspektive


Umso wichtiger ist, dass Reprodukt nun mit Am Anfang ist ein Strich einen Kurzgeschichtenband einer der wichtigsten und stilprägendsten Autorinnen des Josei-Genres verlegt: Fumiko Takano. Wie die meisten Mangazeichnerinnen ihrer Generation hatte auch die 1957 in der Präfektur Niigata geborene Takano keine Ausbildung als Mangaka oder in irgendeiner Form im Illustrationsbereich. Sie zeichnete Dojinshi, also nicht professionelle Manga, die im Selbstverlag erschienen. Sie verlegte 1977 ihre erste Geschichte, wobei bereits 1979 ihr professionelles Debüt folgte. 1982 erhielt sie ihren ersten Preis für eine ihrer Kurzgeschichten. Seit diesem Zeitpunkt arbeitet sie professionell als Mangaka. Und obwohl sie vergleichsweise wenige Geschichten herausgab, und auch hauptsächlich Kurzgeschichten, hatte sie von Beginn an eine große Fangemeinde.


Ferien in der Badewanne: Auch kleine Leute müssen ihre Zukunft besprechen


Ihre feine Beobachtungsgabe für Alltägliches aus einem weiblichen Blickwinkel, der sich in der Geschichte wie in ihren Zeichnungen äußerte, sticht stark aus der Masse der Publikationen für ein weibliches Publikum heraus. Klischeehaft der weiblichen Rolle innerhalb der japanischen Gesellschaft zugeordneten Themen wie Romantik oder der Welt entfliehende Märchen interessieren Takano nicht. In der hier zusammengestellten Anthologie erleben wir z. B. in Als Tomoko krank war ein junges Mädchen, das, wir wissen nicht warum, im Krankenhaus ist. Aus ihren kindlichen Augen erleben wir ihre Zeit dort, die gerade durch das kindliche Unvermögen und Nichtverstehen viel Raum für Interpretation für die erwachsene Leserschaft lässt. In Mit dem 4-Uhr-Bus hören wir die Gedanken einer jungen Frau, die zum ersten Besuch bei den zukünftigen Schwiegereltern ist. In beeindruckenden Perspektivwechseln schauen wir durch ihre Augen und blicken von außen auf sie. Der Spannungswechsel zwischen Außen- und Innenwahrnehmung wird so grandios eingefangen. Doch selbst die sehr fantasievolle Geschichte Tokyo Korpokkur, in der es um eine Art kleine Hausgeister geht, die an den bei uns eher bekannten Titel Die Borger von Mary Norton erinnern, ist im Alltäglichen verankert. Sie erzählt von der Phase des Eintritts ins Erwachsenenleben und von Veränderung aus diesem sehr einfühlsamen weiblichen Blick, der den Stil Takanos prägt.


Faszinierende Momentaufnahme einer Alltagssituation, die die Gefühlslage der Protagonistin sehr gut wiedergibt


Andere Geschichten basieren auf Kindheitserinnerungen aus den 1960er-Jahren, deren Zugang uns schwerfällt. Sehr hilfreich sind dafür die im Nachwort verfassten kurzen Interpretationen, ohne die der Inhalt schwer zu greifen ist. Aber auch dann bleiben noch die mit federleichtem Strich gezeichneten Figuren und Bilder, die sich deutlich von dem abheben, was inzwischen bei uns als Manga verstanden wird. Die Panelaufteilung ist sehr gradlinig, die Hintergründe sind meist minimalistisch. Auch Gesichtsausdrücke werden eher sparsam eingesetzt und nicht übertrieben fokussiert. Takano gelingt eine perfekte Balance zwischen Zeichnungen und Erzählung. Dabei lässt sie so viel Spielraum für Interpretation und Zugang, dass ihre Kurzgeschichten spannend und inspirierend sind, auch wenn sie uns teilweise rätselnd zurücklassen.

Diese Anthologie ist feinste japanische Erzählkunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus einer weiblichen Sicht, die sich aus einer gelebten Realität speist.

[Mechthild Wiesner]

Abbildungen © 2025 Reprodukt / Fumiko Takano


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