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Frisch Gelesen Folge 456: Indien – Öl ins Feuer

 

»Nach Pakistan mit euch – oder ins Grab!«


FRISCH GELESEN: Archiv


Indien – Öl ins Feuer

Story: Joe Sacco
Zeichnungen: Joe Sacco

Reprodukt 
Hardcover | 144 Seiten | s/w | 29,00 €
ISBN 978-3-95640-493-1

Genre: Dystopie, Science Fiction

Für alle, die das mögen: Wir gehören dem Land, Im Schatten des Krieges, Phoolan Devi



2013 kam es in Muzaffarnagar, einem Distrikt im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh, zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus. 62 Menschen starben, mehr als 700 wurden verletzt. Joe Sacco nennt die Ereignisse, von denen sein Buch handelt, zu Anfang einen »vergleichsweise mickrigen Aufruhr«, was er historisch begründet: Als 1947 Indien und Pakistan unabhängig wurden, erfolgte die Teilung des Subkontinents, schreibt Sacco, »im Wesentlichen entlang konfessioneller Grenzen: Indien für die Hindus, Pakistan für die Muslime. Eine humanitäre Katastrophe: Über 12 Millionen Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben oder flüchteten (…) und Hunderttausende – vielleicht sogar eine Million – starben während des darauffolgenden Blutvergießens.«

Dass sich der vielfach ausgezeichnete Comicjournalist trotzdem mit dem Thema beschäftigt, begründet er so: »Indien ist ein Paradebeispiel für religiös bedingte Spaltungen, die schon seit Jahrzehnten von der politischen Klasse ausgenutzt werden – um Feindbilder zu erschaffen, Ängste zu schüren und die Wählergruppen enger an sich zu binden.« In der Gegend, in der die Kämpfe ausbrachen, lebten Hindus und Muslime lange friedlich zusammen. Auch der Mord an einem jungen Muslim und das sofortige Lynchen der beiden Hindu-Täter hätten daran möglicherweise nichts geändert. Doch die bewusste Verschleppung der Ermittlungen und die folgenden Unruhen nützten den beiden wichtigsten hinduistischen bzw. muslimischen Parteien – die Toten wurden von ihnen instrumentalisiert. Wie? Von wem? Warum? Das ist Joe Saccos Thema.

Saccos Recherche folgt dem bewährten Muster, das wir schon aus seinen anderen Büchern kennen: Er fährt durch die Gegend, spricht mit ganz unterschiedlichen Leuten und versucht, ein Gesamtbild zu erstellen. So begleiten wir ihn in die eher luxuriösen Häuser der Hindus, die als Landbesitzer recht wohlhabend sind, in die Behausungen der Muslime, die für sie arbeiten und deutlich einfacher leben, sowie in die Lager, in denen Muslime leben, die während der Unruhen flohen. Alle erzählen sehr unterschiedliche Geschichten und widersprechen sich ständig, insbesondere die Politiker der beiden großen Parteien, die ihre jeweilige Basis, Hindus oder Muslime, nachdrücklich verteidigen. Bald ist klar: Irgendwer lügt. Oder alle?

Was Joe Sacco erzählt bekommt, visualisiert er detailliert. Er zeigt die Massenaufmärsche der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, den Überfall auf einen Konvoi, bei dem mehrere Hindus getötet werden und wie im Anschluss muslimische Dörfer überfallen und niedergebrannt werden. Tagelang beherrschen Mobs die Straßen, wütende Menschen mit Stöcken, Schwertern und Gewehren, die nach Opfern suchen. Überall Gewalt! Sacco sagt, dass es ihm zunehmend schwerfalle, Gewalt zu zeichnen, und so drängt sich beim Lesen die Frage auf: Warum tut er es dann so ausführlich?

Visuell ist das Buch fantastisch. Joe Sacco war von Anfang an ein sehr guter Zeichner, schon seine erste Comicheftreihe Yahoo Anfang der 1990er war makellos. Seitdem ist er immer besser geworden, und so ist auch diesmal jede Seite perfekt. Das fällt besonders bei den Gesichtern und Gesichtsausdrücken auf. Es ist alles von ihnen abzulesen, von der leichten Überheblichkeit des Großgrundbesitzers über die Verzweiflung der Geflohenen bis zur stillen Angst junger Frauen. Und natürlich die Wut: Immer wieder gibt es Massenszenen mit wütenden Menschen, die mordlüstern in die Welt starren.

Überhaupt die Menschenmengen: Jede einzelne Figur zeichnet Sacco präzise, nie entsteht der Eindruck, hier sei eine gesichtslose Masse unterwegs – das sind alles Individuen. Was eigentlich ein guter Ansatz ist, denn gerade das individuelle Ausrasten, diese plötzliche Bereitschaft zum Amoklauf, wäre interessant zu erforschen. Doch was in diesen Menschen vor sich geht, erfahren wir nicht: Die Opfer erzählen ausführlich von ihrem Leid, doch die Täter leugnen alles – das waren doch nur ein paar Kinder, die Steine geworfen haben. Ja, klar!

Der maltesisch-US-amerikanische Zeichner kann sehr gut große Ereignisse auf individuelles Leid kondensieren. Schon vor 30 Jahren nahm er sich in seinem Buch Palästina schrecklichen Schicksalen an, tauschte dabei aber immer wieder die journalistische Neutralität gegen Mitgefühl und Trauer. Das tut er heute nicht mehr so extrem: In Indien kommen alle zu Wort, selbst wenn sie wahrscheinlich zu den Tätern gehören und bereits unter Mordanklage stehen. Da zeigt Sacco, was Journalismus sein kann: eine Erkundung, die in Kauf nimmt, am Ende kein eindeutiges, leicht verständliches Bild zu ergeben.

In anderer Hinsicht versagt Sacco dagegen als Journalist erheblich: Er liefert viel zu wenig Hintergrundinformationen. Die Alphabetisierungsrate in Muzaffarnagar liegt unter 70 Prozent (Deutschland: 99 Prozent), die Bevölkerungsdichte bei 959 Menschen pro Quadratkilometer (D: 234 pro Quadratkilometer) und das ökonomische System ist in der ländlichen Region, das wird beim Lesen des Buches sehr deutlich, feudalistisch: Die Hindus sind Landbesitzer, die Muslime ihre Arbeiter. Anders gesagt: Wir sprechen von einem überbevölkerten Gebiet, in dem vielen Menschen Bildung vorenthalten wird und eine enorme Ungleichheit herrscht. Klar kommt es da zu Unruhen. Nur: Das alles steht nicht im Buch, das musste ich selbst rausfinden. Ein guter Comic, keine Frage, aber bei der journalistischen Leistung reicht es gerade noch für eine 4+. Ich hoffe, das nächste Buch, an dem Sacco gerade sitzt, mal wieder über Palästina, geht tiefer.

[Peter Lau]

Abbildungen © 2025 Reprodukt / Joe Sacco


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