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Frisch Gelesen Folge 462: Nestor Burma: »Rififi in Menilmontant«

»Nestor, Alter, du kommst nicht voran.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Nestor Burma: »Rififi in Menilmontant«

Story: Jacques Tardi 
Zeichnungen: Jacques Tardi 

Schreiber & Leser
Hardcover | 200 Seiten | Farbe | 29,80 €
ISBN: 978-3-96582-221-4

Genre: Surreale Groteske

Für alle, die das mögen: Adeles ungewöhnliche Abenteuer Band 11, Alain Robbe-Grillet, Jason



Genial oder wahnsinnig? Brillant oder bescheuert? Vielleicht sogar beides?
Jacques Tardis neues Buch über den Privatdetektiv Nestor Burma lässt viele Fragen offen. Zum Beispiel: Was sind das für Leute, die alle paar Seiten wie zufällig Nestor Burma über den Weg laufen und dabei so spezifisch aussehen, dass sie eigentlich keine Comicfiguren sein können? Warum läuft oder fährt Nestor Burma überhaupt tage- und seitenlang durch die Straßen Menilmontants? Was sucht er da? Was ist das eigentlich für ein Fall? Ist das überhaupt ein Fall? Also genau genommen nicht, oder doch?
Zu Anfang bekommt der dank einer heftigen Erkältung extrem verlotterte Detektiv Besuch von der Gattin des Pharmaherstellers Manchol, die ihm erzählt, dass sie gerade ihren Mann erschossen hat, und sich im Anschluss vor Burmas Augen selbst wegballert. Zurück bleibt ein Brief an Burma, der (offensichtlich aus dramaturgischen Gründen) erst am Ende des Buchs verlesen wird, und eine Warnung vor Weihnachtsmännern, die mit Manchols Werbung durch die Gegend ziehen. Burma informiert Kommissar Faroux, gemeinsam finden sie die Unternehmerleiche, und als Burma am folgenden Tag seine Untersuchung beginnt, wird er bald von einem Weihnachtsmann attackiert. Darauf erst mal einen trockenen Weißwein. So weit, so klar. Doch mit dem Besuch im Bistro bleibt die Geschichte stehen.

Im Gegensatz zum Detektiv: Fortan läuft oder fährt Nestor Burma durchs Viertel, kommt immer wieder an denselben Häusern vorbei und landet immer wieder in denselben Bistros, wo er mit dem Katzenfreund und Leistungstrinker Pichler den trockenen Weißwein fließen lässt. Ab und zu gibt es Krumen einer Auflösung, später türmen sich auch die Leichen, aber jedes Detail zieht sich endlos und wird zudem meist spannungsfrei enthüllt. Alles schlimm einerseits – Tierversuche, Menschenversuche, Pharmaskandal, Verbrecher, Tote, Geld –, aber am Ende bleibt trotzdem der Eindruck eines endlosen gezeichneten Déjà-vu.
Wer Tardis Bild von Paris mag, kommt dabei voll auf seine Kosten. Der Franzose lebt im 20. Arrondissement und kennt es bestens, zudem hat er das Viertel durchfotografiert, wie Bilder am Ende des Buches zeigen. Im Mittelpunkt stehen die detailliert gezeichneten Häuser und die an ihnen entlangführenden Straßen, die allerdings größtenteils erstaunlich leer sind. War das früher so, soll nichts von der Architektur ablenken oder hatte der Künstler keinen Bock auf Details? Noch so eine Frage. Im weiteren Verlauf drängt sich jedenfalls der Verdacht auf, dass die oben erwähnten Passanten Tardis Freunde oder Nachbarn sind, was das Buch zu einer Art Liebeserklärung an sein Zuhause machen würde. Sympathisch! Aber echt nicht hilfreich für Leute, die einen spannenden Krimi lesen wollen.

»Rififi in Menilmontant« ist kein Krimi, auch wenn es am Anfang so aussieht. Er hat wenig mit den anderen Burma-Abenteuern von Tardi zu tun, ganz zu schweigen von den kompakten Adaptionen Emmanuel Moynots. Ich musste bei den endlosen Kreisläufen in Laufkreisen an die bizarren Bücher und Filme (Letztes Jahr in Marienbad) von Alain Robbe-Grillet denken oder an die sich langsam in sich selbst verlierenden Comics von Jason. Auch dieses Buch ist so eine surreale Groteske.
Am meisten hat es mich allerdings an den letzten Teil von Adeles ungewöhnliche Abenteuer erinnert, Tardis einziger Serie. In »Das Baby im Park Buttes-Chaumont«, das 2022 erschien, nimmt der Künstler alle Fäden aus den früheren Bänden auf und verwebt sie zu etwas äußerst Bizarrem, das gleichzeitig allem einen Sinn gibt und überhaupt keinen Sinn ergibt. Das ist witzig, skurril und extrem bizarr, aber nach dem Lesen ging es mir trotzdem wie nach diesem Buch, ich dachte: WTF? Doch jetzt glaube ich: Der Mann weiß, was er tut.

Jacques Tardi ist 79 Jahre alt und so liegt der Verdacht nahe, dass er sein Vermächtnis aufräumen möchte. Bei mittelmäßigen Autoren bedeutet das oft, dass ungeklärte Fragen beantwortet werden oder gebeutelte Figuren ein Happy End bekommen, doch der Franzose spielt in einer anderen Liga. Durch sein Werk ziehen sich zwei Linien: seine gesellschaftskritische linke Haltung, die in seinen Büchern über den Krieg und auch seinen Krimis immer wieder deutlich wurde, sowie eine große Liebe zum Surrealismus. Ersterer hat er mit Elise und die neuen Partisanen, der Biografie seiner Frau Dominique Grange, kürzlich ein Monument gesetzt. Letztere hat er mit dem letzten Adele-Band so exzessiv ausgelebt wie nie zuvor. Und nun treffen sich die beiden Linien bei Nestor Burma.
Einerseits ist da die Pharmaindustrie, die Tardi so hinterhältig und böse wie möglich darstellt – da zelebriert er ein klassisches linkes Feindbild. Und auf der anderen Seite läuft Burma so lange sinnbefreit und der Lust auf Alkohol folgend durch die Straßen, bis sich das angenehm verwirrende Gefühl eines amüsanten Wahnsinns einstellt, das den Surrealismus so attraktiv macht. Wie Drogen, nur ohne Drogen. Wobei die surreale Linie letztlich mehr Gewicht hat, was wohl auch an der Situation des Künstlers liegt: Er muss nichts und niemandem mehr etwas beweisen, sondern kann machen, was er will – und nutzt es voll aus.
Also: Brillant oder bescheuert? Ersteres, wenn du eine amüsante Groteske suchst, Letzteres, wenn du einen Krimi willst. Und wenn du dich für Werke von Künstlern interessierst, die niemandem mehr einen Gefallen tun müssen: genial!

 [Peter Lau]

Abbildungen © 2025 Schreiber & Leser / Jacques Tardi


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