Frisch Gelesen Folge 31: Spirou + Fantasio Spezial 19

Spirou + Fantasio Band 19

»Äh … für meinen Artikel … Was wollten Sie ausdrücken, als Sie »Die Existenz geht dem Nichts voraus« … Nein! … »Die Übelkeit geht der Essenz voraus« geschrieben haben?«

(Fantasio interviewt Jean-Paul Sartre)


FRISCH GELESEN: Archiv


Spirou + Fantasio Band 19 Titelbild

Spirou + Fantasio Spezial Band 19: »Die Leopardenfrau«

Story: Yann
Zeichnungen: Olivier Schwartz

Carlsen Comics
Softcover | 68 Seiten | Farbe | 12,00 €
ISBN 978-3-55177-589-4

Genre: Semi-Funny, Mystery

Für Leser, die das mögen: frankobelgische Klassiker, Nouvelle Ligne Claire


 

Spirou + Fantasio Band 19Brüssel 1946: Seltsame Lichtkegel irren durch die Nacht. Sie werden ausgesandt von klobigen, monströsen Wesen, die über die Dächer der belgischen Hauptstadt schleichen. Es handelt sich dabei – so werden wir später erfahren – um die geheimnisvollen Robotergorillas des ebenso geheimnisumwitterten »Meisters der schwarzen Hostien«. Sie jagen eine farbige Frau im Leopardenkostüm, die vor ihren Häschern über die Brüsseler Dächer flieht. Ihr Ziel ist das Hotel »New Moustic«, in dem auch der Page Spirou seinen Dienst verrichtet.

So stimmungsvoll beginnt »Die Leopardenfrau«, das zweite Spirou-Album von Olivier Schwartz und Yann. Und ebenso interessant geht es weiter. Denn Szenarist Yann präsentiert uns Spirou zu Beginn dieses Abenteuers – Überraschung! - als Alkoholabhängigen, der seiner entschwundenen Liebe Audrey nachtrauert. Die Jüdin Audrey ist im ersten Schwartz/Yann-Album »Operation Fledermaus« (2009) nach Nazi-Deutschland deportiert worden, und Spirou kann über diesen Verlust einfach nicht hinwegkommen. Doch das ist noch nicht alles: Obendrein sieht sich der Hotelpage auch noch mit Gerüchten konfrontiert, ihn verbinde eine homoerotische Beziehung mit seinem Freund Fantasio. Und schließlich verliert Spirou auch noch seinen Job, da der snobistische Alan De Kuyssche (eine Anspielung auf Alain De Kuyssche, einen ehemaligen Chefredakteur des Spirou-Magazins) das Management des »New Moustic« übernommen hat und Spirou offenbar nicht in dessen Vorstellungen von »New Look« passt. Derweil ringt Fantasio mit den abgehobenen Theorien des Philosophen Jean-Paul Sartre, über den er für Le Soir einen Artikel verfassen soll.

Spirou + Fantasio Band 19 Leseprobe

Pulp-Feeling und Catwoman à la Yann & Schwartz bei Spirou

Nein, das ist wirklich nicht das klassische Spirou-Universum eines André Franquin. Und irgendwie ist sie es doch, denn Yann und Schwartz lieben natürlich die Welt der klassischen frankobelgischen Comics, das spürt man in jedem Panel und in jeder Textzeile. Sie spielen jedoch mit deren Sujets, mit deren Versatzstücken und auch mit deren Klischees. Und sie spielen damit mit dem Bewusstsein zeitgenössischer Comickünstler, die sich nicht in den Fallstricken antiquierter Erzählformen verheddern möchten, sondern das Ganze mit Ironie und Augenzwinkern betrachten. Herausgekommen ist dabei eine postmoderne Hommage an die gute, alte Zeit des europäischen Comics.

Über all dem schwebt natürlich der Geist des großen Yves Chaland (1957 - 1990), diesem viel zu früh verstorbenen Genie der europäischen Comickunst. Mit Bob Fish und Freddy Lombard hatte Chaland bereits postmoderne Comic-Huldigungen kreiert. Und er war – in den achtziger Jahren - auch dazu auserkoren, den Klassiker Spirou zu übernehmen. Doch dazu ist es am Ende nicht gekommen. Übriggeblieben ist nur das Comicfragment »Spirou ou Bocongo« (1982), das später als illustrierte Erzählung fortgesetzt wurde (»Stählerne Herzen«, 1990). Hier hatte bereits Yann als Szenarist seine Hände im Spiel, der auch das surrealistische Meisterwerk »Der Komet von Kathargo« (1986) für Chalands Freddy Lombard geschrieben hat. Für Chalands Spirou hatte Yann aber noch weitere Abenteuer in der Schublade, die nun für »Operation Fledermaus« und den Zweiteiler um die Leopardenfrau verwendet wurden. So schließt sich also der Kreis, und Olivier Schwartz erweist sich dabei als würdiger Nachfolger von Chaland.

Spirou + Fantasio Band 19 Leseprobe

Schwere Zeiten für den Pagen ...

Das Szenario von Yann ist diesmal stimmiger als bei »Operation Fledermaus«. Dem Startexter ist hier eine seiner besten Geschichten gelungen: atmosphärisch dicht, temporeich und voller Humor. Und wie es sich für eine postmoderne Erzählung gehört, so strotzt auch »Die Leopardenfrau« vor Anspielungen, Zitaten und Querverweisen.

Eine Auswahl: An einer Stelle des Albums erwähnt ein amerikanischer Soldat die freizügige Miss Lace, die Protagonistin des US-Comicstrips Male Call (1942). Dieser Milton-Caniff-Strip wurde von den amerikanischen GIs während des Zweiten Weltkriegs genussvoll goutiert. Ein amerikanischer Militärpolizist trägt zufälligerweise den Namen Spiegelman, eine Reminiszenz an den Maus-Zeichner Art Spiegelman. Außerdem geben sich in diesem Band prominente Geistesgrößen wie Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir die Ehre. Aber auch Allan, Kapitän Haddocks alter Widersacher, bekommt am Schluss des Bandes noch einen Gastauftritt. Und, last but not least, haben folgende Alben Anregungen für »Die Leopardenfrau« gegeben und darin deutliche Spuren hinterlassen: Hergés »Tim im Kongo« (1930), Franquins »Aktion Nashorn« (1953) sowie »Goldminen und Gorillas« (1956), aber auch Chalands »Der Elefanten-Friedhof« (1984).

Dieses schöne Album ist eine einzige Liebeserklärung an den klassischen frankobelgischen Comic. Für alle Fans dieser Gattung gilt daher: Unbedingt lesen!

[Jörg Petersen]

Spirou + Fantasio Band 19 Leseprobe

Die Nouvelle Ligne Claire von Olivier Schwartz überzeugt auch alte Hasen.

Abbildungen © 2014 Carlsen Comics/Dupuis


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