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Frisch Gelesen Folge 422: No Longer Human

 

»Die Allgemeinheit … Die Gesellschaft … Ich hatte das Gefühl, selbst ich begann sie vage zu begreifen. Einer kämpft gegen den anderen, und es gilt, den Kampf an Ort und Stelle für sich zu entscheiden. Ein kompletter Sieg auf der Stelle als Überlebensmaßnahme, etwas anderes fällt den Menschen nicht ein. Sie loben Prinzipien, doch das Ziel ihrer Mühen ist der Einzelne. Und nach dem Einzelnen folgt abermals der Einzelne. Die Allgemeinheit nicht zu begreifen heißt, den Einzelnen nicht zu begreifen. Das Meer ist nicht die Allgemeinheit, es sind die Einzelnen.«


FRISCH GELESEN: Archiv


No Longer Human

Story: Junji Itō (nach Osamu Dazai)
Zeichnungen: Junji Itō

Carlsen Manga
Hardcover | 624 Seiten | s/w | 32,00 €
ISBN: 978-3-551-80125-8

Genre: Graphic Novel

Für alle, die das mögen: Uzumaki, Schizo, Sibylle Berg



Vergesst Ghule, Geister und Gespenster. Vergesst lebende Tote, wandelnde Mumien und Straßen voller Zombies. Vergesst unendlich tiefe Höhlen, Nachrichten aus dem Jenseits, Stimmen aus der Wand, endlose Spiralen, Wesen unter dem Bett, in der Luft schwebende Hände und abgeschlagene Köpfe. Vergesst alles, was als Horror verkauft wird. Und vergesst sogar den Tod. Das alles ist nur Kleinkram, der ein klein wenig Angst macht, um von dem großen Horror abzulenken, der die große Angst macht, die einzig wahre: vor dem Leben.

So sieht das jedenfalls Yozo. Schon als Kind hat er Angst vor den Menschen und beginnt deshalb, den Trottel zu spielen: Wer lacht, tut ihm nichts. Doch das geht nicht lange gut, ein Mitschüler erkennt, dass er sich nur dumm stellt, und so steht Yozo plötzlich schutzlos vor ihm. Panik! Bis der Mitschüler stirbt – durch einen blutigen Selbstmord. Das wird fortan das Muster seines Lebens: Yozo spielt irgendeine Rolle, manchmal den Freund, aber meist den Verliebten, und die Frauen, die ihm immer wieder verfallen, zerschellen an ihm, verzweifeln und sterben schließlich. Yozo fühlt sich schuldig, aber bei nächster Gelegenheit schlüpft er in die nächste Rolle und taumelt so in die nächste Katastrophe. Denn was soll er machen? Er hat Angst, so eine Angst vor Menschen. Deshalb kann er nicht nein sagen – aber auch nicht ja. Deshalb kann er nicht nüchtern bleiben und wird erst Alkoholiker, später Drogensüchtiger – aber auch das nur widerwillig, denn natürlich füllt ihn das mit mehr Schuld. Er ist unfähig zu leben. Aber sterben kann er auch nicht.

Osamu Dazais 1948 erschienener Roman, der in Deutschland unter dem Titel Gezeichnet erschien, erzählt eine extreme Geschichte: eine endlose Abwärtsspirale aus Angst, Schuld, Gier, Egoismus und Elend, zu der mir nur wenig Vergleichbares einfällt. Vielleicht Schizo von Ivan Brunetti, eine autobiografische Serie aus den Neunzigern, in der der Künstler seine Ängste und Depressionen hemmungslos in die Welt gekotzt hat. Oder die Romane von Sibylle Berg, die aber bei allem Elend nicht ihren Humor verlieren. Der fehlt hier völlig: Dazai schaut gnaden- und humorlos auf ein elendes Leben, das zu einem großen Teil wohl sein eigenes ist – der Roman gilt als autobiografisch. Kein Wunder, dass er sich kurz nach der Fertigstellung gemeinsam mit seiner letzten Geliebten umgebracht hat.

Und auch kein Wunder, dass das Buch ausgerechnet von Junji Itō adaptiert wurde, dem zurzeit wohl einfallsreichsten, klügsten und verstörendsten Künstler im Horrorgenre. Ich habe noch nie etwas Schlechtes von dem Japaner gelesen, einiges ist mittelmäßig, vieles brillant, aber nichts ist so schrecklich wie dieses Buch. Das liegt auch daran, dass Itō es nicht bei einer simplen Adaption belassen hat. Manche Vorfälle, die im Buch nur angedeutet werden, zeigt er schmerzhaft detailliert, und einige Passagen hat er sogar neu erfunden. So beginnt das Buch mit dem Selbstmordversuch der Hauptfigur und seiner Geliebten, der tatsächlich ein Abbild des realen Selbstmords des Autors ist. Und am Schluss trifft Yozo sogar Osamu Dazai selber, dem er im Irrenhaus sein Leben erzählt.

Itō findet für vieles, was im Buch abstrakt klingt, extrem eindrückliche Bilder. Der Höhepunkt ist der Absturz des Protagonisten in die Hölle nach einem weiteren Selbstmordversuch mit Schlaftabletten. Yozo glaubt, dass er nur abstürzt, weil er eine enorme Schwere in sich hat, die zehn Klumpen Unheil in ihm erzeugen, und so versucht er während seines Falls panisch, diese Klumpen herauszuwürgen. Er beginnt mit den Klumpen Allgemeinheit, Respekt und Freundschaft und endet mit seinem Vater sowie seiner Geburt, mit der das Elend begann. Es ist eine entsetzliche, aber unvergessliche Mischung aus Nihilismus und Psychoanalyse.

Und sie sieht fantastisch aus. Wie das gesamte Buch. Itō ist ein großartiger Zeichner, aber dieses Werk ist selbst für ihn außergewöhnlich. Alles wird detailliert auf den Punkt gebracht, vor allem die Gesichtsausdrücke sind beunruhigend treffend: Angst, Unsicherheit, falsche Gefühle, verlogenes Lachen, hinterhältige Ideen, Geilheit, Gier – es steht den Figuren ins Gesicht geschrieben.

Ich habe keine Idee, wer das lesen soll. No Longer Human ist ein Meisterwerk, aber es ist zugleich so furchtbar, dass es niemandem zugemutet werden sollte. Vielleicht ist es ein Buch für Menschen mit wirklich guten Nerven, die ernsthaft in den Kern der Angst sehen wollen – dann ist es das perfekte Buch. Jeder andere Horror ist danach albern.

[Peter Lau]

Abbildungen © 2017 JI Inc., SHOGAKUKAN / © 2024 Carlsen Verlag GmbH


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