Frisch Gelesen Folge 315: Boris, das Kartoffelkind

»Überlege es dir gut. Ich gebe dir viel Geld für diese Gitarre. Mehrere Scheine. Und je mehr Scheine du besitzt … desto mehr Pommes besitzt du.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Boris, das Kartoffelkind

Story: Anne Simon
Zeichnungen: Anne Simon

Rotopol
Softcover │ 164 Seiten │ s/w │ 19,00 €
ISBN: 978-3-96451-029-7

Genre: Drama, Parabel

Für alle, die das mögen: Verwandlung, Die Vögel – fliegen hoch!, Strannik


Der kleine Boris ist so unangenehm, dass es einem den Atem verschlägt. Der bösartige Fratz behandelt seine Mutter Aglaé wie eine Sklavin und lässt sie unter anderem tagaus, tagein Kartoffeln schälen. Denn Pommes sind seine Leibspeise – ach was, seine Ernährung überhaupt; andere Gerichte lehnt er kategorisch und hasserfüllt ab. Sein Aussehen passt zu den kulinarischen Vorlieben: Er wirkt wie eine riesige Kartoffel, die auf einen Kinderkörper gesetzt wurde. Und Aglaé lässt alle Erniedrigungen zu. Vermutlich, weil sie ihn für ihr ein und alles hält und vielleicht, weil sie ihr Gedächtnis verloren hat. Zuvor war sie Königin des Landes Marylène. Doch das war einmal. Das weiß auch ihr Filius und nennt sie abfällig nur noch »Luftblase«, weil ihr Gehirn ebenso leer sei. Der Kleine hat aber hochtrabende Träume. Er will Leibwächterinnen haben, kämpferische und gutaussehende. Und am besten die des Victor von Krantz, der vor seiner Mutter als Diktator herrschte. Die wie große Pommes auf Beinen aussehen. Lüsterne Träume eines Heranwachsenden? Auf jeden Fall macht er sich alsbald in die Welt auf und hat ein drolliges Holzspielzeug auf Rädern im Gepäck. Das hat es aber in sich, denn es beherbergt den Geist des Diktators von Kratz und verfügt über hypnotische Kräfte.

Anne Simon entführt einen in eine ungewöhnliche Welt, die von Menschen-, Tier- und Pflanzenwesen bevölkert ist. Auf den ersten paar Seiten unterhält sie noch mit einem Humor, der schmallippig als schmerzlich-belustigend interpretiert werden kann. Doch der mündet äußerst schnell und beinahe überraschend in eine skurrile, fiese Story um Macht, Gewalt und Verführung. Sie überrumpelt den Leser aber auch mit einer putzigen Optik, die zunächst vom bitterernsten Inhalt ablenkt und auch gut zu Kinderbüchern passen würde. Doch nachdem ihre Botschaften angekommen sind, ist klar, dass dieser Stoff was für Erwachsene ist und ein schöner Beitrag für das U-Comix der 1980er gewesen wäre. Simon beginnt mit einer verkorksten Mutter-Sohn-Beziehung und zeigt vereinfacht, wie Menschenmassen begeistert und kontrolliert werden können. Etwa anhand des Beispiels, wie Boris das Geld »erfindet« und scheinbar aus dem Nichts heraus ein Wirtschaftssystem ans Laufen bringt, das unserem verblüffend ähnelt. Anne Simon ist in ihren Schilderungen zwar ziemlich schwarzweiß und präsentiert sehr wenig Grautöne, regt damit aber gut zum Nachdenken an. Denn Geld, was ist das schon? Eigentlich nur bedrucktes Papier, von dem wir annehmen, es habe Wert. Weil zum Beispiel ein Staat verspricht und damit quasi garantiert, dass damit etwas erworben beziehungsweise eingetauscht werden kann.

Und so funktioniert das auch bei Boris. Er ist zwar ein Kotzbrocken, hat es aber drauf, seine Umgebung mit Versprechungen, verlogenen Schmeicheleien, versteckten und offenen Drohungen zu manipulieren. Und lässt solange nicht locker, bis er die Bevölkerung mit den Scheinen, auf denen sein Konterfei zu sehen ist, begeistert. Damit gelingt es ihm, einen Teil des Landes Marylène süchtig nach Zahlungsmitteln zu machen und mehr oder weniger zu unterwerfen. Simon zeigt vereinfacht und einfach, wie es Populisten und Diktatoren gelingt, Menschen in ihren Bann zu ziehen.

Neben all dem bietet dieser Band auch eine spannende Abenteuergeschichte, die sich über mehrere Jahrzehnte zieht. Lange scheint gegen Boris und seine Machenschaften kein Kraut gewachsen zu sein. Es gibt aber Landsleute, die ihn und seine Aktivitäten gar nicht mögen und daran arbeiten, es ihm heimzuzahlen. Übrigens, Boris – Das Kartoffelkind ist der bislang dritte Teil eines Epos und kann tatsächlich, wie es der Verlag verspricht, ohne Vorwissen der anderen Ausgaben verstanden werden. Und lässt die Frage keimen, was in den übrigen Bänden Die Kaiserin Cixtite und Das Tun und Lassen der Aglaé erzählt wird.

[Walter Truck]

Abbildungen © 2022 Rotopol / Anne Simon


Kauft den Comic im gut sortierten Comicfachhandel: CRON-Händlerverzeichnis

Oder beim Verlag: Rotopol