»Ich vermute, ihr seid alle hier, weil ihr euch wie Außenseiter fühlt, stimmt’s?«
FRISCH GELESEN: Archiv
Acting Class
Story: Nick Drnaso
Zeichnungen: Nick Drnaso
Blumenbar
Hardcover | 268 Seiten | Farbe | 28,00 €
ISBN: 978-3-351-05102-0
Genre: Graphic Novel, Sozialkritik
Für alle, die das mögen: Sabrina, Psychoanalyse
Mit seiner letzten Graphic Novel war der US-Amerikaner Nick Drnaso nominiert für den Booker Prize. Damit war Sabrina der erste Comic, der es bei dem wichtigsten britischen Buchpreis in die Endrunde geschafft hat. Wie kann man das toppen?
Rund vier Jahre später ist das neue Buch von Drnaso erschienen. In Bezug auf den Umfang hat er jedenfalls noch einmal zugelegt. Stolze 268 Seiten im ungewöhnlichen, fast schon quadratischen Großformat von 21,8 x 25,7 cm hat die Graphic Novel, die auf Deutsch beim Blumenbar Verlag erschienen ist und wie im Original den Titel Acting Class trägt. Aber das sind Äußerlichkeiten. Wie sieht es mit den Inhalten aus?
Nach Beverly (2016) und Sabrina (2018) ist Acting Class Nick Drnasos dritte große Graphic Novel. Vergleicht man das neuste mit seinen vorigen Werken, so kann man konstatieren, dass er inzwischen seinen Stil gefunden hat. Typisch ist die kleinteilige Panelaufteilung. Nicht selten umfasst eine Comicseite 15 Panels auf fünf Streifen. Das ist ganz schön viel. Da bleibt nicht viel übrig für Hintergründe. Oftmals sieht man »Talking Heads«, Köpfe, die reden. Und reden. Wirkliche Emotionen kann man an den Gesichtern nicht ablesen. Und mitunter hat man auch Probleme, einzelne Figuren auseinanderzuhalten, weil sie sich einfach zu ähnlich sehen.
Dies könnte man als größten Kritikpunkt anführen. Aber das war es dann auch schon. Alle anderen Facetten von Acting Class machen in ihrer Gesamtheit gewisse Defizite im grafischen Bereich mehr als wett.
Vorstellungsrunde mal anders: Über sich selbst zu reden ist nicht so leicht, wie man denkt.
Die Geschichte ist eine Klasse für sich. Sie handelt von zehn Personen, die Schauspielunterricht nehmen. Nicht in einer Schauspielschule, sondern bei einem Mann mit dem Namen John Smith (»Ein Name, den man leicht vergisst.«). Eine Anzeige hat die Schauspielnovizen in einen Raum ohne Möbel geführt, wo sie am Boden sitzend warten. Als John Smith, ein Mann um die 40 mit strahlend blauen Augen, der ein bisschen redet wie ein Psychiater, erscheint, geht es ohne Vorstellung unmittelbar los.
Die Zusammensetzung der Gruppe scheint arbiträr, spiegelt aber vor allem die Gesellschaftsschicht Mensch wider, die im Alltag zu kämpfen hat: mit Arbeitskollegen, der Familie, dem Umfeld per se. Da ist Rayanne, eine 30-jährige, alleinerziehende Mutter eines dreijährigen Sohnes, die sonst kaum jemanden sieht und etwas Abwechslung vom Alltag sucht. Oder Lou, der selbst gemachte Kekse zur Arbeit mitbringt, nur um am Ende des Tages festzustellen, dass niemand einen davon gegessen hat. Stattdessen machen sich die Kollegen lieber über ihn lustig. Oder der kahlköpfige Neil, der mental instabil erscheint, aber Gutes tut, indem er Geld für wohltätige Zwecke sammelt und eines Tages von einer fremden Frau beschuldigt wird, er hätte ihre kleine Tochter vergewaltigt.
Missverständnisse zwischen Lehrer und Schülern: »Ihr seid hier, weil in eurem Leben etwas schiefläuft.«
Das Figurenensemble ist umfangreich und bunt gemischt. Das macht einerseits die Handlung höchst interessant, andererseits ist es eine große Herausforderung für Drnaso, alle Personen flüssig unter einen Hut zu bekommen. Und für den Leser wird es schwierig, den Überblick zu behalten.
Fast jeder einzelne Subplot der diversen Charaktere ist für sich spannend. Denn mit jeder Unterrichtsstunde, die übrigens nicht alle am gleichen Ort stattfinden, mitunter auch abgelegen, einmal außerhalb der Stadt bei einem Bekannten von Smith, werden die Geschehnisse bizarrer. Die Schauspielschülerinnen und -schüler denken sich so stark in verschiedene Rollen hinein, dass die phasenweise den Weg der Realität verlassen.
Das Geheimnis, das John Smith umgibt, tut sein Übriges.
Königsdisziplin Rollenspiel: Die Rolle, die Thomas zugewiesen bekommt, bleibt geheim.
Eine Schlüsselfrage, die sich durch Acting Class zieht, dreht sich darum, was wahr oder falsch ist. Als John damit beginnt, einzelnen Personen bestimmte Rollen zuzuordnen, beschleunigt sich der Prozess obendrein. So bleibt Lou, der den Familienhund spielen soll, starr in seiner Rolle verhaftet bis zum Ende des Rollenspiels. Fast alle werden durch den Unterricht in ihrem normalen Leben beeinflusst. Realitäten verschwinden oder vermischen sich mit Ausgedachtem.
Mit Acting Class ist Nick Drnaso ein weiterer großer Wurf gelungen. Mir persönlich hat diese Graphic Novel noch besser gefallen als Sabrina. Sie zeigt nicht nur problembehaftete Menschen, die auf der Suche nach etwas sind, von dem sie selbst nicht wissen, was es ist. Es ist eine grandiose Studie über die Psyche der zivilisierten Menschheit.
Auch wenn die Kolorierung aus gedeckten Farben besteht und die Hintergründe vorwiegend monochrom sind, übt das Buch eine faszinierend schillernde Anziehungskraft aus. Mysteriös, morbide, irreal. Wie ein guter David-Lynch-Film.
[Matthias Hofmann]
Abbildungen © 2022 Blumenbar / Nick Drnaso
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