»Und so, wie immer verwirrt von der Vielzahl der Dinge, die nach einer Erklärung verlangen, ohne einen Hinweis auf ihren Sinn zu geben ... ging Orlando zu Bett.«
FRISCH GELESEN: Archiv
Story: Virginia Woolf
Zeichnungen: Susanne Kuhlendahl
Helvetiq
Hardcover | 208 Seiten | Farbe | 35,00 €
ISBN: 978-3-03964-100-0
Genre: Graphic Novel, Romanadaption
Für alle, die das mögen: experimentelle feministische Literatur
Wie ein Wirbelwind fegt Orlando durch die Jahrhunderte – ausgehend vom England des 16. Jahrhunderts begleiten wir den jungen Adligen durch 300 Jahre eurasische Geschichte. Dabei schert sich Orlando wenig um Konventionen, er bricht nicht nur die Herzen vieler, sogar das der Königin, auch sein Herz wird gebrochen. Inmitten der Erzählung und höchster politischer Unruhen wechselt Orlando das Geschlecht und erwacht aus einem langen Schlaf als Frau. Dies geschieht ohne Erklärung und Orlando selbst wie auch die Leser:innen müssen sich mit diesem Fakt arrangieren. Nach erster Begeisterung über den Müßiggang, dem sie nun frönen kann, begreift Orlando aber auch die Einschränkung ihres neuen Geschlechts. Was für eine Qual sind die Reifröcke des 18. Jahrhunderts! Doch die Lage wird auch im 19. Jahrhundert nicht besser. Die viktorianische Ära erdrückt Orlando mit ihrer biederen Moral und schon wieder muss sie sich neu erfinden …
Die lieben Frauen Sittsamkeit, Reinheit und Keuschheit lassen die Fanfaren ertönen und weisen optisch auf Woolfs genderfluiden Ansatz hin.
Als Literaturwissenschaftlerin ist mir Orlando, wie wohl den meisten von uns, im Studium begegnet. Der Roman gilt nicht umsonst als Ausgangspunkt für die Diskussion über Geschlecht und Identität. 1928, ein Jahr vor ihrem bahnbrechenden Essay Ein Zimmer für sich allein, schreibt Virginia Woolf diesen Roman. Mehrere Kniffe wendet sie hierbei an – sie konstruiert den Text als Biografie, wobei sie geschickt reale Ereignisse und auch Personen neben fiktiven Geschehnissen und Figuren konstruiert. Und nicht zuletzt vermischt sie Geschlechterrollen, Genderkonstrukte und sexuelle Orientierungen. Damit entging sie der damaligen Zensur von offener Darstellung homosexueller Liebe und Sexualität.
Obwohl sich auf dem Feld der Genderforschung und in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von queerem Leben seither viel getan hat, bleibt Woolfs Thema nach wie vor ein kontroverses. Aktuell sind in Europa Strömungen und politische Entscheidungen auf dem Vormarsch, welche die Rechte von queeren und nichtbinären Menschen einschränken oder als nicht gleichwertig ansehen. Um so spannender ist es, dass Susanne Kuhlendahl diesem bald hundert Jahre alten Roman neues Leben einhaucht, indem sie ihn als Graphic Novel umsetzt.
Szenisch, aber nicht überfrachtet führt uns Kuhlendahl durch das Leben Orlandos.
Kuhlendahl hat bereits einige Erfahrung sammeln können mit Comicadaptionen von Literaturklassikern. Unter anderem erschien 2019 Der Tod in Venedig nach der Novelle von Thomas Mann. Mit Virginia Woolf selbst hat sich Kuhlendahl in ihrer gleichnamigen, inzwischen vergriffenen, 2021 erschienenen Biografie befasst; sie ist also eine Kennerin der Autorin. Sie arbeitet in Orlando stilistisch gleich wie in ihrer Woolf-Biografie. Ihre Aquarellzeichnungen passen sich der jeweiligen Epoche an. Geschickt unterteilt Kuhlendahl den Roman in Kapitel, die den Jahrhunderten entsprechen, die Orlando durchlebt, orientiert an den Herrscher:innen, denen er bzw. sie unterworfen war. Und auch die Darstellung und Farbgebung entspricht den gesellschaftlichen Gegebenheiten der Zeit. So stellt Kuhlendahl z.B. die beengenden moralischen Vorstellungen und die langsam einsetzende Industrialisierung der viktorianischen Zeit durch das Wegnehmen von Farbe und die Dominanz von Grautönen dar, die nur durch die Flucht ins private Glück, Orlandos Heirat, wieder bunt wird.
Agil, übervoll und aggressiv erscheint die Moderne in Kuhlendahls Darstellung.
Kuhlendahl setzt Virginia Woolfs Roman bildgewaltig und beeindruckend um, nimmt überzeugende Textraffungen vor und unterstreicht mit den grafischen Darstellungen die Aktualität der Vorlage. Ein ganzes Jahrhundert konnte dem Roman kaum etwas anhaben und Kuhlendahls Umsetzung zeigt dies auf beeindruckende Weise. Die Graphic Novel ist mit ihrem großen Format und ihren fulminanten Zeichnungen, die sich mal ganz klassisch innerhalb selbst gesetzter Panelgrenzen, dann wieder völlig frei über Doppelseiten verteilen, ein wunderbares Weihnachtsgeschenk für Liebhaber:innen von Literaturklassikern.
[Mechthild Wiesner]
Abbildungen © 2025 Helvetiq / Susanne Kuhlendahl
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