Frisch Gelesen Folge 309: Primordial

 

»Haben Sie sich je gefragt, warum? Wegen dieser Fehlschläge hätten beide Nationen niemals den Wettlauf ins All aufgegeben.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Primordial

Story: Jeff Lemire
Zeichnungen: Andrea Sorrentino

Splitter
Hardcover │ 176 Seiten │ Farbe│ 25,00 €
ISBN: 978-3-96792-361-2

Genre: Mystery, Fantasy, Scifi, Thriller

Für Leser, die das (und interessante Zeichnungen) mögen: Button Man (Wagner, Ranson), Akira (Otomo), Der Turm (Peeters, Schuiten), Elektra Assassin (Miller, Bill Sienkiewicz)


An seinem ersten Arbeitstag in Cape Canaveral erlebt Doktor Pembrook eine herbe Enttäuschung. Das »Projekt Pen Cap«, an dem er mitwirken soll, ist kein Neustart des US-amerikanischen Raumfahrtprogramms, sondern das genaue Gegenteil. Es ist ein Aufräumjob, bei dem er helfen soll, aus dem Vorhandenen alles rauszuholen, was noch militärischen Nutzen hat. Gleich zu Beginn bekommt er irgendwelche Ausdrucke in die Hand gedrückt, die hinter einer Konsole lagen. Und die Papiere haben es in sich, denn sie enthalten die Vitaldaten der Versuchstiere Able und Baker – von einer Zeit acht Minuten nach ihrem offiziellen Ableben. Und sie sind offenbar echt.


Die USA und der Aufbruch ins All – oder doch nicht?


Damit stellt Jeff Lemire (Gideon Falls, Sweet Tooth) die Weichen für einen faszinierenden Sci-Fi-Mystery-Thriller. Es gibt Geheimdienstmitarbeiter, mit und ohne dunkle Anzüge, es geht um die nationale Sicherheit und scheinbar unerklärbare Vorgänge auf der Erde und im All. Aber: Das Jahr 1961, in das er uns führt, ist nicht das unsere. Zwei Jahre zuvor scheiterte eine wichtige Raummission, weil die Rakete versagte und die mitgeschickten Primaten starben; eben Able und Baker. Davor sollte Laika das erste Lebewesen im All sein, doch auch die Russen erlebten einen katastrophalen Rückschlag. Das frustrierte beide Seiten und so fand der uns bekannte »Wettlauf ins All« nicht statt. Außerdem triumphierte Richard Nixon im Wahlkampf über John F. Kennedy und wurde amerikanischer Präsident. In einem Punkt ähneln sich aber die Zeitlinien: Weltpolitisch brodelt es mächtig und der Kalte Krieg wird immer heißer.

Bemerkenswert ist auch der gewählte Titel Primordial (spätlateinisch »ursprünglich«). Dieser Begriff wird in der Physik verwendet; aber auch in der Ethnologie, hier meist im Zusammenhang mit Konzepten zu Identität und Ethnizität. Das Wort klingt undefinierbar und sonderbar kompliziert und passt zur gebotenen Story, die Erinnerungen an den Kinofilm 2001 – Odyssee im Weltraum (1968) weckt. Denn auch Lemire schildert Vorgänge, die sich einem nicht sofort erschließen und stellenweise für eine entrückt verträumte Stimmung sorgen.


Ein gezeichneter Schrei – selbst die Farben schmerzen.


Andrea Sorrentino (Joker: Killer Smile, I, Vampire) steuert realistische Zeichnungen bei und grenzt den Inhalt optisch ab. Wenn es um Politik und Verschwörung geht, kommt seine Grafik ein wenig abstrakt und leicht verschwommen daher. Das Layout ist hier klassisch, die Panels sind ordentlich angeordnet. In den Sci-Fi- und Mystery-Abschnitten ist der Bildaufbau anders: Da ist sein Strich außerordentlich präzise. Dafür explodieren manche Seiten; und dann springen einem einzelne Bildelemente regelrecht ins Gesicht. Verblüffend ist auch sein Gebrauch von großen weißen Flächen und die auffällige Verwendung von Rasterpunkten. Sorrentino schafft es sogar, zwei aufeinanderfolgende, eigentlich für sich stehende Seiten zu einer doppelseitigen Splashpage zu koppeln.


Das kommt unerwartet: Laika spielt auch eine Hauptrolle.


Kolorist Dave Stewart (Eine Studie in Smaragdgrün, Hellboy) denkt ähnlich und wählt seine Farben nach Inhalt. Im Agententeil verwendet er dunkle Farben, am liebsten Braun, Blau und Schwarz. Bei den phantastischen Erzählsträngen benutzt er angenehme, lebensbejahende Töne. Hin und wieder unterstützt er Sorrentinos Bildausbrüche nach Kräften: Dann knallen einem seine Signal- und Neonfarben krass entgegen. Von beiden auch gerne genommen: Fisselige Linien in Grün, Blau und Rot auf gelbem Untergrund, die wie für sich alleine stehen, aussehen, als hätten sie eine 3D-Funktion, und das Auge im positiven Sinn ungemein irritieren.


Wenn es um Verschwörungen geht, werden Stewarts Farben düster …


Jeff Lemire hat hier sorgsam eine schöne Geschichte konstruiert, die mit ihren Seherlebnissen auch toll in ein Schwermetall der 80er passen würde. Seine Handlungsstränge hat er fest im Griff und verliert nie die Kontrolle. Spannender Comic, der zumindest für dieses Alternativ-Universum die Frage beantwortet, ob es da draußen, neben Sternen und Planeten, noch mehr gibt. Außerdem wartet Jeff Lemire mit einem Dreh auf, der vergleichsweise unerwartet kommt. Schwierig, mehr zu sagen, ohne den Lesespaß zu verderben. Aber so viel sei verraten: Es hat was mit Able und Baker zu tun. Und mit Laika.

[Walter Truck]

Abbildungen © 2022 Splitter / Jeff Lemire, Andrea Sorrentino


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