Frisch Gelesen Folge 311: The Me You Love in the Dark

 

»Sag mir Geist, bist du echt oder werde ich verrückt?«


FRISCH GELESEN: Archiv


The Me You Love in the Dark

Story: Skottie Young
Zeichnungen: Jorge Corona

Splitter
Hardcover | 128 Seiten | Farbe | 24,00 €
ISBN: 978-3-96792-295-0

Genre: Horror

Für alle, die das mögen: Stephen King, Mystery- und Horrorcomics, Schauerliteratur



Was für eine herrlich düster romantische Geschichte, die uns Skottie Young vorsetzt. Die junge, attraktive Künstlerin Ro kann bereits auf einige Erfolge zurückblicken. Das erhöht den Druck und eines Tages passiert das, wovor sich alle kreativen Menschen fürchten: Blockade. Ihr will einfach nichts mehr gelingen und einfallen. Zur Lösung des Problems zieht sie sich aufs Land zurück und mietet sich in einem alten verlassenen Haus ein. Hier in der Düsternis, unterstützt von reichlich Rotwein, hofft sie ihre Inspiration wiederzufinden. Stattdessen findet sie einen Geist, der ihr beim Malen hilft, Zeit mit ihr verbringt und romantische Gefühlte hervorzaubert. Erst nach und nach wird Ro klar, welchen hohen Preis sie dafür zahlen muss. Oder bildet sie sich die Geistererscheinung am Ende nur ein?

Blockiert: Künstlerin Ro kommt beim Malen zunächst nicht voran.

Ich mag düstere Geschichten. Vor allem wenn nicht alles bis ins kleinste Detail ausgeleuchtet wird, wenn vieles in Andeutungen und Ungewissheit endet. Genau das gelingt den Machern von The Me You Love in the Dark. Wir Leser erfahren gerade so viel, wie notwendig ist, um der Geschichte folgen zu können. Vieles bleibt im Unklaren. Das macht die Geschichte doppelt gruselig und sorgt für Gänsehaut. Und an Gänsehautmomenten mangelt es nicht auf den 128 Seiten. So erfahren wir beispielsweise keine Hintergrundgeschichte über den Geist. Nicht einmal seinen Namen gibt er preis. Wo kommt er her? Was bindet ihn an das alte Haus? Alles Fragen, denen auch Ro auf den Grund gehen will, die aber unbeantwortet bleiben. Lediglich kleine, nichtssagende Andeutungen bekommt sie als Antwort.


Andeutungsreich: Vieles bleibt im Dunkeln.

Meisterhaft ist auch, wie der Grusel langsam in die Geschichte eindringt. Ganz allmählich wird uns bewusst, wie Ro in eine toxische Beziehung gezogen wird. Und als sie es bemerkt, ist es schon zu spät. Denn mit dem ersten Erscheinen des Geistes wurde nicht der größte Spukmoment geschrieben. Dieser entwickelt sich erst nach und nach. Young steht damit in der Tradition des klassischen Schauerromans des späten 19. Jahrhunderts. Aber auch Stilmittel der klassischen dunklen romantischen Novelle fließen in seiner Erzählweise ein, denn wie seine großen literarischen Vorbilder arbeitet er mit einem Wendepunkt, der novellenmäßig ziemlich genau in der Mitte seiner Geschichte angesiedelt ist. Der Morgen, nachdem Ro und der Geist eine Nacht miteinander verbracht haben. Nach dieser Situation kippt die Geschichte.

Aber Youngs Erzählweise ist nicht das Einzige, was The Me You Love in the Dark zu einem der schönsten Comicbände des bisherigen Jahres macht. Vielmehr sind es die Zeichnungen von Jorge Corona, die den Band zu einem wahren Erlebnis machen. Young und Corona arbeiten bei The Me You Love in the Dark nicht zum ersten Mal zusammen. Die beiden Amerikaner haben bereits mit der Serie Middlewest ein gemeinsames Projekt. Man merkt der finsteren Romanze an, dass die beiden bereits ein eingespieltes Team sind. Geschichte und Zeichnungen bilden eine tiefe und reife Einheit und blättern die ganzen Folgen einer toxischen Liebe auf.

Stehlen mitunter die Show: Jorge Coronas Zeichnungen.


Ich möchte auf keinen Fall Youngs exzellenten Schreibstil schmälern, aber Corona stiehlt dem Buch in weiten Teilen die Show. Angesichts der Tatsache, dass die Geschichte von einer Künstlerin handelt, wird Coronas eigene Kunst, zusammen mit Jean-Francois Beaulieus Kolorierung, in einem ganz anderen Blickwinkel betrachtet. Ein Maler zeichnet eine Malerin und ihre Ängste, ihre Romanze. Seine Bilder bekommen die Klangfarben einer düsteren Vinylscheibe von Deine Lakaien. Und wenn die paranormale Erscheinung immer tiefer und immer brutaler in Ros Wirklichkeit einbricht, dann glaubt man dank der wundervollen Zeichnungen im Hintergrund das Kratzen der Plattennadel und das dunkle »Love me to the End« zu hören – Gänsehautmoment.

Die Reduzierung im Plot auf die drei wesentlichen Faktoren, Ro, das Haus und der Geist, haben die Komplexität so weit reduziert, dass etwas wirklich Großartiges entstehen konnte. Eine düstere Geschichte voller Grusel und schöner Momente. Für mich definitiv 10 von 10 Poltergeistern.

[Bernd Hinrichs]

Abbildungen © 2022 Splitter / Skottie Young, Jorge Corona


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