Frisch Gelesen Folge 227: Ich, der Verrückte

 

 »Die Pharmakonzerne wollen jedenfalls nicht, dass wir gesund, sondern chronisch krank sind, abhängig von Medikamenten. Das ist ihr Geschäft.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Story: Antonio Altarriba
Zeichnungen: Keko

avant-verlag
Hardcover | 136 Seiten | s/w mit Gelb | 25,00 €
ISBN: 978-3-96445-011-1

Genre: Psychokrimi

Für alle, die das mögen: Leichte Beute; Ich, der Mörder



Martin Shkreli gründete 2015 die Pharmafirma Turing, kaufte als ihr CEO die Rechte für das Malariamedikament Daraprim, das unter anderem bei Aids-Behandlungen eingesetzt wird, und erhöhte dessen Preis pro Pille von 13,50 Dollar auf 750 Dollar. Der absehbare Shitstorm war jedoch nicht der Grund, warum seine Karriere im Dezember desselben Jahres endete: Er wurde wegen Betrugs verhaftet und 2017 zu sieben Jahren Gefängnis sowie 7,4 Millionen Dollar Geldstrafe verurteilt. Richtig lustig machen seine Geschichte aber erst die Fun Facts: 1. 2017 bot Shkreli 5000 Dollar für eine Locke von Hillary Clinton. 2. 2015 kaufte Shkreli für zwei Millionen Dollar das einzige Exemplar des Wu-Tang-Clan-Albums Once Upon a Time in Shaolin, das er 2016 im Internet streamte – weil Donald Trump die Wahl gewonnen hatte. 3. Dasselbe versuchte er mit Kanye Wests The Life of Pablo, für das er mehr als zehn Millionen Dollar bot. 4. Und dann war da noch die Ex-Bloomberg-Journalistin, die sich in ihn im Knast verliebte – obwohl er sich irgendwann nicht mehr bei ihr meldete.

Der 1983 geborene »Pharma Bro« ist ein unfassbares Arschloch – und steht dazu. Das finde ich faszinierend, denn in unserer Welt beteuern selbst Entscheider, die vor Gier kaum laufen können, dass ihnen das Allgemeinwohl am Herzen liege. So freute ich mich, als ich merkte, dass Martin, der Chef des Pharmakonzerns in Ich, der Verrückte, wohl auf Shkreli basiert. Tatsächlich gehen die unterhaltsamsten Momente dieser Graphic Novel auf sein Konto: Wie er vom Chefbüro aus in einem Punisher-Hoodie Fischreiher beobachtet, bei einer Konferenz auf einem Drachenflieger einsegelt und für eine Performance selbstverständlich Jeff Koons, den Liebling aller Arschlöcher, als Künstler wählt, ist ebenso böse wie treffend. Von Koons' kurzem eigenen Auftritt ganz zu schweigen.

Leider ist nicht der irre CEO die Hauptfigur des neuen Buches des spanischen Künstlerduos Antonio Altarriba und Keko, sondern einer seiner Angestellten: Angel Molinos. Der Ex-Autor von Theaterstücken entwickelt für den Psychopharmaka-Konzern neue Krankheitsbilder, für die dann neue Pillen erfunden werden können, auf dass der Rubel rollt. Sein aktueller Coup ist die Quantophrenie, der Zwang zu messen, und als eine Rivalin des CEO Interesse daran zeigt, sieht es aus, als sei Angel auf dem Weg nach oben. Doch dann tauchen zwielichtige Kritiker inner- und außerhalb des Konzerns auf, eine nymphomane Kunstliebhaberin bedrängt ihn und etliche vielsagende Träume lassen ahnen, dass irgendwas nicht stimmt.

So zusammengefasst klingt das alles viel besser, als es tatsächlich ist. Bereits die Idee, ein Pharmakonzern würde einen Künstler anstellen, der sich Krankheiten ausdenkt, ist so doof – als müsste man eine Krankheit nur ausrufen, damit sie allgemein akzeptiert wird. Angels Kollegin Begoña sammelt Gemälde von Narrenschiffen, was interessant klingt, aber bevor sie ihre Sammlung zeigt, zieht sie sich aus, und danach wirkt jedes Wort wie ein Vorwand, um dicke Möpse zu zeigen. Und Angel selber ist ein unentschlossener, gequälter Charakter, der sich mühsam zum Guten wendet und dann sofort verrückt wird. Im echten Leben hätte ich mit ihm Mitleid – aber als Hauptfigur ist er so interessant wie ein leeres Taxi.

Das hat mich überrascht, denn die erste Kooperation des Duos, Ich, der Mörder, war in vielerlei Hinsicht exakt das Gegenteil. Die Hauptfigur des 2015 erschienenen Bandes, Emilio Rodriguez, ist ein Professor für Kunstgeschichte, der auf sehr komplizierte Weise Menschen ermordet, was er als seine persönliche Art der Kunst betrachtet, während sein Privatleben und die akademische Karriere langsam zerbröseln. Erzählt wird das radikal subjektiv aus der Perspektive des Mörders, was einem dessen kranke Gedankenwelt unangenehm nahe bringt. Das Buch ist durchzogen von bizarren Kunstexkursen und kuriosen Nebenfiguren, zudem ist sehr lange überhaupt nicht absehbar, wie dieses Elend enden wird. Eine grandiose Graphic Novel, die immer noch lieferbar ist – große Empfehlung!

Hier dagegen ist das meiste von Anfang an klar. Dem vermeintlichen Verschwörer, dem die Hauptfigur nach zehn Seiten begegnet, ist die Hinterhältigkeit und die Bosheit so ins Gesicht gemalt, als sei er eine Parodie – doch leider ist er ein ernst gemeinter Spannungserzeuger. Diverse Nebenstränge der Handlung versickern im Nichts: der Missbrauch in der Kindheit, unter den Angel immer noch leidet, die wohnungslosen Eltern, um die sich Angels Bruder kümmert, die Aktivisten, die den Konzern bedrohen. Und als Angel zum Schluss irre wird, dachte ich nur: Wieso? Weshalb? Warum?

Was nicht heißen soll, dass Ich, der Verrückte völlig missglückt ist. Zeichnerisch ist er sehr stark, in den Alptraumsequenzen funktionieren die krassen Schwarzweiß-Kontraste extrem gut, erst Recht, wenn sie im Gegensatz zu dem sparsam eingesetzten Gelb stehen. (Im vorigen Band waren die farblichen Akzente rot, wie Blut, klar, warum es diesmal gelb ist, hat sich mir nicht erschlossen.) Es gibt auch einige interessante Gedanken zur Kunst und zu Äquatorialguinea, die allerdings etwas aufgesetzt wirken. Und natürlich ist es lustig, wenn die Polizisten aus Ich, der Mörder wieder Professor Emilio Rodriguez verdächtigen.

Aber das tröstet nicht darüber hinweg, dass die Geschichte nicht funktioniert: Es gibt keinen Grund für den aberwitzigen Aufwand, mit dem hier ein paar böse Konzernmenschen einen armen Trottel in den Wahnsinn treiben – alles, was sie erreichen wollen, könnten sie viel einfacher haben. Schlimmer finde ich jedoch, dass Antonio Altarriba mit der Verschwörung den Blick auf wichtige Themen verbaut: dass immer mehr Menschen psychische Probleme haben – weshalb sich niemand für mehr Profit neue Diagnosen ausdenken muss. Und dass die Leute, die Raffen, Raffen, Raffen über alles stellen, keine Gangster sind, sondern nur tun, was man von ihnen in unserem Gesellschaftssystem erwartet. Wären alle Arschlöcher so offen wie Martin Shkreli, wären wir einen Schritt weiter.

[Peter Lau]

Abbildungen © 2021 avant-verlag / Antonio Altarriba, Keko


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