Frisch Gelesen Folge 202: Joe Hill – Im tiefen, tiefen Wald

Szene aus Im tiefen, tiefen Wald: Ach du schei... !

»Vielleicht hat jemand einen Zauber verpatzt.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Joe Hill – Im tiefen, tiefen WaldDas Titelbild von Im tiefen, tiefen Wald.

Story: Carmen Maria Machado
Zeichnungen: Dani

Panini Comics
Softcover | 164 Seiten | Farbe | 19,00 €
ISBN: 978-3-741-62014-0

Genre: Horror

Für alle, die das mögen: Stephen King, Mystery-Serien



Die Frage, die sich der Leser zu Beginn der Lektüre unbedingt stellen muss, ist: Wodurch zeichnet sich guter Horror aus? Die einen behaupten, dass es blutig und ekelig sein muss. Für die anderen ist guter Horror etwas, das vornehmlich im Kopf stattfindet, nicht in tatsächlichen Bildern. Vor allem für diejenigen, die sich zur letzten Gruppe zählen, ist der neue Band aus der Joe-Hill-Schmiede das Richtige. Alle anderen mögen sich einfach weiter Crossed von Garth Ennis als Lektüre vornehmen.

Joe Hill, das dürfte sich mittlerweile rumgesprochen haben, ist ein Spross des Bestseller-Autors Stephen King. Als Kurator des DC-Imprints Hill House Comics hat er entscheidenden Einfluss auf die dort veröffentlichten Comics. Es zeigt sich, dass er wie sein berühmter Vater Meister darin ist, Horror und Grauen ganz langsam in das amerikanische Kleinbürgermilieu einsickern zu lassen.

Die Kleinstadtidylle trügt ...
Der Horror sickert ganz langsam in die Kleinstadt ein: Octavia und Eldora sind beste Freundinnen und fahren immer gemeinsam auf einem Rad – »Hi-yo, Silver!«


Das ist in dem neuesten Band Joe Hill – Im tiefen, tiefen Wald nicht anders. Vorgestellt wird uns die amerikanische Kleinstadt Shudder-to-Think in Pennsylvania. Hier wohnen die beiden Teenager Octavia und Eldora. Nach einem gemeinsamen Kinobesuch stellen sie fest, dass ihnen ein paar Stunden fehlen – aus dem Gedächtnis gestrichen. Dabei entpuppt sich das kleine Städtchen als weitaus seltsamer als ein paar verlorene Erinnerungen, wie diese Geschichte von Autorin Carmen Maria Machado und Zeichnerin Dani bald deutlich macht. Als die beiden Mädchen dann auch noch eine bizarre Kreatur erblicken, halb Hirsch und halb Mensch, stellt Eldora einige sachliche Spekulationen an: »Vielleicht hat jemand einen Zauber verpatzt. Oder es kam aus der Felsspalte im Park.«

... denn in den Wäldern treiben sich seltsame Gestalten rum.
In den Wäldern um Shudder-to-Think treiben sich seltsame Gestalten rum.


Eine Geschichte zu schreiben, in der unheimliche Dinge passieren, ist an sich nicht besonders schwer; der Trick besteht darin, genug Substanz hinter der Seltsamkeit zu bieten, um den Leser zu fesseln. In Im tiefen, tiefen Wald wird dies durch die Charakterisierung erreicht. Dabei stützt sich die Autorin bei der Entwicklung der Protagonistinnen zum großen Teil auf Erzählungen, in denen die beiden Teenager Anekdoten über vergangene Ereignisse in ihrem Leben erzählen. Das mag für den Leser mitunter etwas viel Text sein, verspricht dafür aber Personen mit viel Tiefe. So lässt Machado, die mit dem Band ihr Erstlingswerk vorlegt, die Interpretation eines im Englischunterricht gelesenen Romans, die anhaltende Beunruhigung, als Kind ein totes Tier im Zoo gesehen zu haben, Perspektiven auf die Stadt und ihre bewegte Geschichte, allgemeine Betrachtungen über das Leben, Freundschaft und Liebe einfließen. So werden Octavia und Eldora zu geerdeten, glaubwürdigen Charakteren, die die fremdartigen, unheimlichen und mitunter verwirrenden Ereignisse um sie herum ausgleichen. Die beiden Mädchen sind für den Leser die Konstante.

Die Geschichte hat Tiefe ...
Die Geschichte bekommt Tiefe und Glaubwürdigkeit durch die erzählenden Texte.


Die Illustrationen der Künstlerin Dani und der Koloristin Tamra Bonvillain sind dabei das genaue Gegenteil. Wo die Autorin auf authentische und feste Charaktere setzt, sind die Zeichnungen vielfach nur angedeutet, bestehen aus losen Strichen und bieten viel Interpretationsspielraum. Diese Balance ist genau richtig: Denn die unklaren Zeichnungen führen uns immer wieder vor Augen, dass der Comic eine verschwommene Traumwelt abbildet. Nur so ist es dem Leser möglich, die plötzliche Ankunft eines Hirsches mit Menschenkopf oder eines der anderen Wesen zu akzeptieren.

... und bietet den Figuren durch die teils impressionistischen Zeichnungen viel Freiraum.
Der teils impressionistische Zeichenstil bietet viel Freiraum, der durch die gute Charakterisierung der Protagonistinnen gefüllt wird.


Die Stärke des Comic ist, dass er nicht nur mit Octavia und Eldora zwei gut realisierte Protagonistinnen einführt, sondern auch erfolgreich ihre Ängste, Erinnerungen, Träume und Albträume in den Kopf des Lesers implementiert. Im Vordergrund steht die Atmosphäre und nicht die Details der Handlung. Deshalb schließen wir, wenn die Geschichte vorbei ist, den Band mit seltsamen Erinnerungen und Gefühlen an Shudder-to-Think. Und genau das macht erstklassigen Horror aus.

[Bernd Hinrichs]

Abbildungen © 2020 Panini Comics / Dani


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