Frisch Gelesen Folge 130: West, West Texas

»Ich ... ich bin achtzehn, nicht zwölf. Ich kann gehen, wohin ich will!«


FRISCH GELESEN: Archiv


West, West Texas

Story: Tillie Walden
Zeichnungen: Tillie Walden

Reprodukt
Softcover | 320 Seiten | Farbe | 29,00 €
ISBN 978-3-95640-195-4

Genre: Coming-of-Age, Roadcomic, Surrealismus

Für alle, die das mögen: Tillie Waldens Pirouetten, Alison Bechdels Fun Home, Jack Kerouacs Unterwegs und Roadmovies


Bea schiebt den Blues. Sie will einfach nur weg, wohin ist egal. Der Abendhimmel ist so wolkenverhangen und violett wie ihre Stimmung. Beinah nimmt sie den Bus nach Houston. Doch sie zögert und zaudert, wirkt planlos, ziellos und landet schließlich im Wagen von Lou, die sich über die Abwechslung freut. Die beiden kennen sich flüchtig, mögen sich aber nicht sonderlich. Eine Zweckgemeinschaft auf einem Roadtrip mit unbestimmtem Ausgang.


Bea will weg ...

Viel mehr passiert in Tillie Waldens neuer Graphic Novel nicht. Zwei junge Frauen unterhalten sich über ihr Leben, die eine bringt der anderen das Autofahren bei, und wie in jeder guten Geschichte über das Unterwegssein kommen die beiden am Ende bei sich selbst an. Wie die 1996 geborene und bereits mehrfach prämierte US-Amerikanerin diese Geschichte erzählt, ist indes außergewöhnlich. Das Ankommen ist bei Walden mehr als eine simple Sinnsuche, mehr als die verwirrten Hormone einer 18-Jährigen und mehr als das schwere Gepäck der in der Quarter-Life-Crisis feststeckenden und vor der eigenen Vergangenheit davonfahrenden Lou. Hinter dieser auf den ersten Blick simplen Coming-of-Age-Geschichte schlummert ein düsteres Thema, das Beas zögerliche, alles und jeden abschätzende und abwehrende Art erklärt. Den Bus nach Houston hat sie nicht wegen ihrer Unentschlossenheit sausen lassen, sondern wegen des Blicks eines Passagiers, den auch Millionen andere Frauen nur zu gut kennen.


... und landet bei Lou im Auto.

Wie von etwas erzählen, von dem sich im Grunde nicht erzählen lässt? Und wie etwas erzählen, das schon unzählige Male erzählt wurde, ohne die Leserschaft dabei zu langweilen? Im autobiografischen Pirouetten erzählte Tillie Walden vom Coming-out einer Eiskunstläuferin im sengend heißen Texas. Allein diese Kombination machte den mit dem Eisner Award ausgezeichneten Comic zu einem Ereignis. In West, West Texas hat sich Walden nun noch schwierigeren Themen angenommen: sexuellem Missbrauch und toxischer Männlichkeit. Wie behutsam sich Walden dem annähert, wie indirekt und metaphorisch sie ihre Geschichte erzählt, ist ganz erstaunlich.

 
Waldens Zeichnungen machen den Roatrip zum Trip.

Waldens selbst kolorierte, von kräftigen Blau- und Rottönen dominierte Zeichnungen entwickeln nach und nach ein Eigenleben. Sie spiegeln Stimmungen und nehmen noch nicht Ausgesprochenes vorweg. Sie schlagen Brücken und reißen welche ein. Bis sich die verschiedenen Erzähl- und Metaebenen schließlich ununterscheidbar vermischen oder die Zeichnungen ganz auflösen, wenn die Grausamkeit des Gesagten sich nicht in Bilder fassen lässt.




Die Zeichnungen entwickeln ihr Eigenleben (oben) oder lösen sich ganz auf (unten).

Die Leser*innen können all das freilich auch wörtlich und bildlich nehmen. West, West Texas, der im Original Are You Listening? heißt und die Bedeutung des genauen Hinhörens, was Missbrauchsopfer zu sagen haben, betont, funktioniert auf beide Weisen – als abgefahrener Roadtrip, als magischer Thriller, der durch eine mysteriöse Katze und seltsame Regierungsbeamte ins Surreale kippt, oder als metaphorische, traumhafte Bewältigung von Traumen.


Lou kämpft gegen seltsame Beamte. Oder sind es innere Dämonen?

Nach Pirouetten sollte Walden spätestens jetzt auch hierzulande jeder auf der Rechnung der vielversprechendsten Comickünstler*innen haben. Und das, obwohl erst ein Bruchteil ihres bereits beachtlichen Werks auf Deutsch erschienen ist. Mit The End of Summer, I Love this Part, A City Inside und On A Sunbeam sind noch weitere Schätze zu heben.

[Falk Straub]

Abbildungen © 2019 Reprodukt


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