Frisch Gelesen Folge 174: Unfollow

»Wir hatten immer gewusst, dass uns Earthboi nur für einen Moment erschienen war.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Unfollow
Story:
Lukas Jüliger
Zeichnungen:
Lukas Jüliger

Reprodukt
Softcover | 168 Seiten | Farbe | 18,00 €
ISBN: 978-3-95640-217-3

Genre: Graphic Novel

Für alle, die das mögen: Social-Media-Dystopien, moderne Märchen



An Lukas Jüliger kommt man momentan nicht vorbei, wenn man den deutschen Comicmarkt betrachtet. Die Kritik feiert ihn als Wunderkind, seit sein Debütcomic Vakuum 2012 erschien, eine Coming-of-Age-Geschichte, die dieses reichlich durchgenudelte Genre neu definiert und gleichzeitig wie ein zeitloser Klassiker wirkt. Die Dichte der Erzählung ist untrennbar verwoben mit der Ausdruckskraft der Zeichnungen. Und dass ein/e Comickünstler*in Inhaltliches wie Visuelles so harmonisch und intensiv transportieren kann, das ist wohl die Superkraft von Lukas Jüliger.

Das zeigt sich auch in seinem neuesten Comic Unfollow. Obwohl sein Zeichenstil die gleiche beeindruckende Konstanz aufweist und er wieder eine Distanz zwischen seiner Erzählung und seinen Leser*innen aufbaut, die regelrecht spürbar ist, kreiert Jüliger hier einen vollkommen neuen Kosmos. Auch wenn er seinem Alter, geboren 1988, und seinem Erfahrungshorizont treu bleibt, ist der Tiefgang der Story beeindruckend.


Der Heilsbringer – eins mit dem Universum.


Unfollow
erzählt die Geschichte eines Menschen, der gleichzeitig auch keiner zu sein scheint, sondern ein höheres Wesen mit der Weisheit von Abertausend Leben. Er macht sich die modernen Medien und alle üblichen Social-Media-Kanäle nutzbar, um seine Botschaft zur Rettung der Erde und der Menschheit zu transportieren. Doch wie kann man sich solch einem messianischen Charakter annähern, wie seine Geschichte glaubhaft wiedergeben?

Jüliger wählt hier geschickt die Perspektive der Jünger von Earthboi, wie er sich selbst tauft. Als eine Art Erinnerungstagebuch berichten die Zurückgebliebenen von ihm, von seinem Weg auf dieser Welt und der Art, wie er seine Vision umsetzte. Der Panelaufbau, der sich konstant durch den gesamten Comic zieht, ist dabei wie in einem Fotoalbum oder aber auf Instagram, um dem Social-Media-Thema treu zu bleiben. Unter und über den Panels, die meist längs über die gesamte Seite gehen, im Durchschnitt drei Panels pro Seite, findet sich der Text. Direkte Rede in Form von Sprechblasen setzt Jüliger nicht ein. Dieses Stilmittel des Bewusstseinsstroms hat er auch in Vakuum verwendet, in dem er den Gedanken des Protagonisten viel Raum gibt. Dadurch entsteht diese gewisse Distanz, die einer Geschichte über die Verlorenheit des Erwachsenwerdens gut steht.


Der Zweck heiligt die Mittel. Earthboi lenkt die Geschicke der Menschen durch die sozialen Medien.


In Unfollow setzt Jüliger die Distanz zwischen Leser*in und Erzählung jedoch dazu ein, um die Entrücktheit seiner Figur zu verdeutlichen. Earthboi scheint uns aus einer anderen Dimension gesandt worden zu sein, um die Erde zu heilen. Und die, die es geschafft haben, ihm zumindest etwas nahegekommen zu sein, berichten über ihn und führen uns an seine Hinterlassenschaft heran. Der regelrecht rhythmische Bildablauf und die Farbgebung, die sich auf die Farben rot und blau beschränkt, tun dabei ihr Übriges, um den mystischen Charakter des Protagonisten zu untermauern. Wie eine Hymne oder ein Lobgesang erscheint die Erzählweise durch die, die uns seine Geschichte nahebringen.

Die Errettung der Erde und die Bekehrung der Menschheit mithilfe der modernen Medien – das klingt so simpel und profund, dass sich der gesamte Comic logisch vor den Leser*innen entfaltet. Jüliger erfindet hier das Rad nicht neu, er vermischt aber so geschickt klassische Heilslehren, dass ich beim Lesen nicht darum herum gekommen bin zu denken: Ja, genau so einen Menschen bräuchte es! Jüliger referiert aber nicht nur auf das Christentum, Anlehnungen an den Buddhismus sind zu finden, als Earthboi eine Meditations-App erstellt, die Menschen dazu veranlasst, sich von ihrem weltlichen Leben abzuwenden. Den stärksten Einfluss hat aber die Gaia-Hypothese, die Vorstellung, dass die Erde ein lebendes Wesen ist, die von einer schweren Krankheit befallen ist, die »Mensch« heißt. Hier zeigt sich, wie schon in anderen Comics Jüliger, dass er der Generation angehört, die stark vom Manga geprägt ist, in dem die Thematik der Erde als leidendes Wesen, das sich gegen die Menschheit wehrt, immer wiederkehrt. Auf Jüligers Instagram-Profil nennt er seinen Comic einmal »My holy book«, dem religiösen Charakter seines Comics voll bewusst.


Rhythmisch wie eine Atemübung ist der Aufbau der Seiten.


Trotz all der Dichte und der kraftvollen Thematik bleibt der Comic immer vage, immer verhalten. Dieser Spannungsbogen macht den Reiz des Comics aus. Bis zum Ende bleibt die Frage offen, ob die Welt nun errettet ist oder nicht. Auch in den finsteren Augenblicken bleibt aber ein Hoffnungsschimmer zurück. Die Welt ist zu retten, wenn wir nur wissen, wie. Jüliger säht den Samen, er lässt ein zartes Pflänzchen sprießen, dessen Zukunft noch völlig ungeschrieben ist. Vielleicht ist er selbst eine alte Seele, wenn er so kraftvolle Comics erzählen und zeichnen kann.

[Mechthild Wiesner]

Abbildungen © 2020 Reprodukt


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