Frisch Gelesen Folge 122: Negalyod

»Noch zehn Tage Staub fressen und dieser elenden Rohrleitung folgen, um zum Nomadenmarkt zu gelangen ...«


FRISCH GELESEN: Archiv


Negalyod

Story: Vincent Perriot
Zeichnungen: Vincent Perriot

Carlsen
Hardcover | 208 Seiten | Farbe | 28,00 €
ISBN: 978-3-551-73433-4

Genre: Science Fiction, Action, Western

Für alle, die das mögen: fremde Welten, Comics von Mœbius


 

Die Mondlandung jährt sich dieser Tage zum 50. Mal. Ein Ereignis, das ganze Generationen inspirierte. Die im Intro von Star Trek erwähnte »final frontier« war gefallen. In der deutschen Übersetzung werden aus dieser letzten Grenze bekanntlich »unendliche Weiten« – und auch diese schienen plötzlich nicht mehr nur in der Fiktion, nicht nur für Captain James Tiberius Kirk und die Besatzung des Raumschiffs Enterprise erreichbar. Wir träumten davon, in ferner Zukunft ferne Galaxien zu bereisen, und davon, schon in Kürze den Mond und den Mars zu besiedeln. Heute ist all das immer noch Zukunftsmusik. Der letzte bemannte Raumflug zum Mond liegt bald 47 Jahre zurück. Und mehr als ein Rover, der einsam seine Kreise zieht, hat es bislang nicht auf den Roten Planeten geschafft. Leben jenseits des Erdballs ist weiterhin nur in der Science Fiction zu finden. Einer, der uns zeit seines Lebens damit zum Träumen brachte, war Jean Giraud.

Als Mœbius entführte er uns in die assoziativ zu Papier gebrachte Hermetische Garage …:

… und gemeinsam mit Enfant terrible Alejandro Jodorowsky in die prallvolle Welt des abgehalfterten Privatdetektivs John Difool:

Er dachte sich das Universum der Sternenwanderer aus …:

… und den unter vielen Namen agierenden Raumvermesser Arzach:

 

Neil Armstrongs Erstkontakt mit dem Erdtrabanten war »one small step for [a] man, one giant leap for mankind«, so wie Mœbius' Zeichnungen nur kleine Handbewegungen für ihn, aber ein gewaltiger Sprung für das Medium waren. In seinen Geschichten war alles möglich. Körper und Geist waren keine Grenzen gesetzt. Seine Welten inspirierten ganze Generationen – anscheinend auch Vincent Perriot. In Negalyod, dem bis dato umfangreichsten und ambitioniertesten Werk des 1984 geborenen Franzosen, grüßt das 2012 verstorbene Comicgenie von jeder Seite. Mit Koloristin Florence Breton, seit den 1970ern im Geschäft und mehrfach für Mœbius tätig, hat sich Perriot eine Comicveteranin mit an Bord geholt. Ihre kräftigen, ausdrucksstarken Farben sind ein echter Hingucker und verleihen Seiten wie dieser das entscheidende Etwas:

In Negalyod hebt Perriot nicht ins All, aber in eine fremde Welt ab. Wo und wann die Geschichte spielt, bleibt wie so vieles in diesem mehr als 200 Seiten starken Album offen. Ist es ein Alternativentwurf der Erde, auf der die Dinosaurier überlebt haben? Ist es eine Zukunftsvision, in der die ausgestorbenen Tiere wieder zum Leben erweckt wurden? Oder erzählt Perriot von einem anderen, erdähnlichen Planeten? Letztlich spielt es keine Rolle, hält aber gerade durch die Neuanordnung vertrauter Elemente die Faszination hoch.

Ausgangs-, Mittel- und Endpunkt ist der Erzähler Jarri Tschapalt. Auf seinem treuen Reittier Stygo treibt der Hirte eine Herde Chasmosaurier zum Nomadenmarkt – immer an den riesigen Wasserleitungen entlang, die die rotbraune Wüstenlandschaft wie Adern durchziehen, und vorbei an gigantischen Wracks, »den immer noch frischen Spuren der Rebellionskriege«. Ein Sci-Fi-Cowboy, der die Sprache der Dinosaurier spricht. Ein Nomade, dessen Erscheinungsbild an die Hirten- und Reitervölker der Mongolei erinnert.

Wussten wir bei Mœbius nie, was hinter dem nächsten Panel lauert, steuert Negalyod schnell in vertraute erzählerische Fahrwasser. Als ein Blitzschlag Jarris komplette Herde niederstreckt, sinnt er auf Rache und begibt sich von der Einöde in die Zivilisation, in die vom »großen Netz« durchdrungene und kontrollierte Station 3703. Wie in H. G. Wells' Die Zeitmaschine (1895) und wie in so vielen ihr nachfolgenden Dystopien – von Fritz Langs Film Metropolis (1927) bis Neill Blomkamps Elysium (2013) – ist auch der Moloch in Negalyod in ein sorgenfreies Oben und ein sorgenvolles Unten geteilt. Und wie bei Wells verbirgt sich auch bei Perriot hinter dieser starren wie erstarrten Zweiklassengesellschaft ein Twist.

Der Rest ist ein altbekannter Mix: ein religiöser Erlöser, der den Geknechteten die Augen öffnen will, seine übereifrige Tochter, die in ihrem Enthusiasmus über das Ziel hinausschießt und als Gegenspieler eine diffuse, bis zum Schluss nicht greifbare, weil nicht (mehr) menschliche Macht, das Netz:

Perriots Zeichnungen sind spektakulär, seine Welt ist vielfältig. Trotz aller Reminiszenzen, ob an Mœbius, Wells oder an Actionsequenzen aus Filmen wie Krieg der Sterne (1977) ...:

… oder Mad Max 2 (1981) und Mad Max: Fury Road (2015) ...:

… am Ende glückt Vincent Perriot eine eigenständige Welt, die durchaus Potenzial für Nachfolgebände hätte. Perriot hat ihr einen sozialen, religiösen und historischen Überbau und eine ökologische Botschaft verpasst, deutet all das aber nur an anstatt aus. Seine Figuren bleiben Archetypen, seine Handlung ist trotz mehr als 200 Seiten dünn. Lieber setzt der Franzose auf wendungsreiche Action, die ihm deutlich schwerer als seine atemberaubenden Landschaftspanoramen und seine faszinierenden Stadtansichten von der Hand geht. Besonders mit der Dynamik hat er Probleme. Waghalsige Manöver wie dieses sehen seltsam ungelenk aus:

Negalyod ist ein Ausnahmecomic, keine Frage, lässt einen aber auch etwas ratlos zurück. Wirklich sympathisch ist keine der Figuren – auch deshalb, weil Vincent Perriot ihnen zu wenig Fleisch auf die Rippen gibt, ihnen kaum Zeit zum Verschnaufen und keine zur Entwicklung lässt. Letztlich sehen wir dem Geschehen mehr unbeteiligt zu, als den Beteiligten die Daumen zu drücken. Das mag traumhaft aussehen, regt aber nur bedingt zum Träumen an. Die »final frontier« seines Schaffens hat Perriot damit noch nicht erreicht.

 [Falk Straub]

Abbildungen Negalyod © 2019 Carlsen
Abbildungen Mœbius-Comics © Cross Cult, Splitter Verlag, Schreiber & Leser, Heavy Metal


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