»In einigen zwanzig Jahren wird man über diese ‚Comics-Epoche‘ tiefgründige Abhandlungen schreiben (wir wußten das schon immer etc. etc.) und somit über das, was eben noch ignoriert, auf subtilste klugscheißen.«
H.C. Artmann (Das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken, 1964)
FRISCH GELESEN: Archiv
Mafalda – Quinos Comicstrip als Gesellschaftskritik im Argentinien der 1960er und 70er Jahre
Text: Lia Roxana Donadon
Universitätsverlag Siegen
Softcover | 156 Seiten | s/w | 16,00 €
ISBN: 978-3-96182-75-7
Genre: Sekundärliteratur
Für alle, die das mögen: Comicstrips, Peanuts, Funny-Klassiker
Als der argentinische Zeichner Quino am 30. September 2020 starb, schrieb Eva Thöne bei Spiegel Online unter dem Titel »Zu klug für diese Welt« über dessen Comicfigur Mafalda: »1964 betrat ein Mädchencharakter die Welt der globalen Comic-Kultur, der so progressiv war, dass er erst Jahrzehnte später mit Lisa Simpson eine ebenbürtige Nachfolgerin finden sollte.«
Die sechsjährige Mafalda ist anders als ihre Altersgenossinnen. Sie ist resolut, ganz schön schlau, tut nicht nur klug, sondern interessiert sich wirklich für die ganz großen Themen wie Demokratie, Frieden, Rassismus oder Ungerechtigkeit. Das in einer Familie der argentinischen Mittelschicht lebende Mädchen kann daher als frühe Feministin gelten. »Ihre Kommentare und ihre Scharfsichtigkeit sind Spiegel und Diagnose der sozialen Probleme und Weltpolitik der 1960er und frühen 70er Jahre«, schreibt Lia Roxana Donadon in ihrem Buch Mafalda – Quinos Comicstrip als Gesellschaftskritik im Argentinien der 1960er und 70er Jahre, welches im Frühjahr 2020 im Universitätsverlag Siegen erschienen ist.
Dieser Sekundärband ist der Auftakt einer neuen Reihe mit dem Namen »Siegen Research in Graphic Narrative« (kurz: SIEGN), die von Professor Dr. Daniel Stein herausgegeben wird. In dieser Reihe sollen in Zukunft »originelle Monographien und Sammelbände, darunter Dissertationen sowie exzellente Masterarbeiten und andere Forschungsarbeiten« aus dem weiten Feld der Comics – oder grafischen Literatur (deshalb »graphic narrative«) erscheinen.
Beispielseite aus dem Buch
Das Buch von Donadon nimmt sich einem der wenigen non-US-amerkanischen Comicstrips an, die weltweit publiziert wurden. Mafalda erschien sowohl in deutschen Zeitungen als auch in Sammelbänden. Bereits 1971 veröffentlichte der Verlag Bärmeier und Nikel zwei Bände. Verlage wie Illu Press und Krüger ließen Ausgaben mit Comics vom »Kindermund mit Hintergrund« folgen. Zuletzt erschienen in den 1990er Jahren vier Alben mit Comics der philosophierenden Göre im Boiselle & Löhmann Verlag.
Donadons Analyse ist ein literaturwissenschaftlicher Exkurs und daher mitunter durch viele Zitate nichts für den Durchschnittsleser. Ihre Aufarbeitung ist jedoch mustergültig durchgeführt, denn sie beginnt mit einem Abriss über die Kunstform Comic, die lobenswerterweise nicht zu ausführlich geraten ist, schließlich gibt es genug Comicliteratur nur zum Thema Comic an sich.
Danach geht es in medias res mit einem historischen Rückblick auf den argentinischen Comic, der alle wichtigen Entwicklungen und Künstler berücksichtigt. Kern des Buchs ist das Kapitel »Das Phänomen Mafalda im gesellschaftlichen Kontext der 1960er und frühen 70er Jahre«, in welchem Donadon den Comic Mafalda, seine Protagonisten, kulturspezifische Aspekte oder die Stilmittel von Quino aufschlüsselt.
Das Layout des Buchs ist zweckmäßig. Es hätten sicherlich etwas mehr Bildbeispiele sein können. Das ist seit Jahren eine generelle Krankheit von Comicsekundärliteratur aus universitären Kreisen. Die Abbildungen und Comics, die im Buch abgedruckt werden, sind z.T. recht klein oder von schlechter Bildqualität. Den optischen Bereich könnte man bei zukünftigen Bänden, gerade bei Behandlung einer visuellen Kunstform wie dem Comic, etwas weniger stiefmütterlich behandeln. (Mir ist die Copyright-Problematik natürlich bewusst, aber das ist alles eine Frage des Willens, schließlich schaffen es Comicfachmagazine auch, ihre Texte kostengünstig aussagekräftig und sinnvoll zu illustrieren.) So findet sich in dem Buch nicht ein einziges Foto des Künstlers Quino (dafür aber fast vier Seiten Zitate zu seinem Gedenken, meist auch noch doppelt gemoppelt in Spanisch und Deutsch).
Was mir ebenfalls fehlt, ist die Publikationshistorie von Mafalda in Deutschland. Zumindest ein kleines Kapitel wäre dieser Aspekt sicherlich wert gewesen.
Beispielseite aus dem Buch
Mafalda ist heute in Deutschland nahezu vergessen. Wirklich populär war der Comic hierzulande nie. Zu Unrecht. Eine neue Veröffentlichung könnte helfen, zumindest Freunden von Comicstrip-Klassikern den Comic wieder näher zu bringen.
Da trifft es sich gut, dass dieses Jahr ein bereits mehrfach verschobener neuer Sammelband erscheinen soll. Als fünfter Band der Reihe Die Bibliothek der Comic-Klassiker wurde vom Carlsen Verlag für September 2020 ein großformatiges Buch mit Quinos Mafalda angekündigt. Damit befindet sich die »liebenswerte Nervensäge« in illustrer Gesellschaft mit Hal Fosters Prinz Eisenherz, Dik Brownes Hägar, E.C. Segars Popeye und Claire Bretéchers Die Frustrierten.
Das Buch von Lia Roxana Donadon über Mafalda ist insgesamt ein gelungener Auftakt einer vielversprechenden Reihe von Comicsekundärliteratur. Es ist besonders Comicforschern und Comicfans, die sich für Hintergründe interessieren, zu empfehlen. Man kann auf die weiteren Bände gespannt sein.
[Matthias Hofmann]
Abbildungen © 2021 Universitätsverlag Siegen / Quinos
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