Frisch Gelesen Folge 279: Corto Maltese: »Schwarzer Ozean«

»Ich habe dich angelogen, Raua. Ich bin kein Seemann, sondern Pirat.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Corto Maltese: »Schwarzer Ozean«

Szenario: Martin Quenehen
Zeichnungen: Bastien Vivès

Schreiber & Leser
Hardcover | 184 Seiten | s/w und Farbe | 24,80 €
ISBN: 978-3-96582-087-6

Genre: Abenteuer, Klassiker

Für Leser, die das mögen: Abenteuer, richtig coole Frauen, keine Termine und leicht einen sitzen, Corto Maltese


 

Ich mochte Corto Maltese nicht. Ich las die klassische »Südseeballade«, das erste Abenteuer des weltenbummelnden Seemanns, in ZACK und fand sie furchtbar öde, vor allem aber absurd schlecht gezeichnet. Es wäre leicht zu sagen, ich war eben ein Kind, dem das ästhetische Feingefühl für die Zeichnungen des Italieners Hugo Pratt fehlte, doch leider änderte sich meine Meinung über die Jahre nicht: Pratt wurde als Gigant des Comics verehrt und Corto Maltese als sein Meisterwerk, doch ich fand auch die späteren Geschichten nur wenig interessanter und zu krakelig. Zugegeben, dieses ziellose Driften des Protagonisten, das auf fast magische Weise Glücksmomente schuf, lernte ich mit den Jahren zu schätzen. Aber begeistert war ich nie.

Ganz anders ging es mir mit Bastien Vivès: Ich fand ihn von Anfang an großartig, sowohl als Autor wie als Zeichner. Selbst seine wildesten Bilder in Das Gemetzel oder In meinen Augen schienen mir stets auf den Punkt. Der übersichtliche frankobelgische Stil, den ich zu ZACK-Zeiten gut fand, langweilt mich mittlerweile zu Tode – wer braucht simple Bilder, wenn er komplexe Gefühle haben kann? Und die stellt niemand so gut dar wie Vivès. Leider hat er die neue Version von Corto Maltese nicht selber geschrieben, und der französische Autor Martin Quenehen sagte mir bisher nichts. Doch der Zeichner reichte, um meine Neugier zu wecken. Die Frage war nur: Wer prägt die Wiedergeburt stärker: der lange Schatten Hugo Pratts oder das neue Team?

 

Um es kurz zu machen: es ist ein Unentschieden. Vivès und Quenehen haben die Figur gründlich zerlegt, aber ihre besten Teile übrig gelassen. Corto Maltese ist immer noch ein Seemann, doch jetzt Pirat, er driftet immer noch durch die Welt, aber nun Anfang unseres Jahrtausends, er stellt immer noch den Frauen nach, aber die sind passend zur Zeit modern, unabhängig und entscheidungsstark. Doch vor allem ist Corto Maltese immer noch so lässig wie früher, wenn nicht gar zurückgelehnter, mit einer Kippe im Maul, die zu ihm gehört wie der Geruch der See, der aus dem neuen Band immer wieder herausweht.

Die Geschichte ist schnell erzählt, nicht zuletzt, weil es eigentlich keine Geschichte ist: Corto rettet einen peruanischen Japaner, der ihn auf die Spur eines Goldschatzes in seiner Heimat bringt, den er natürlich sucht. Es geht von Japan in die Anden und in den Dschungel, übers Meer nach Panama und schließlich Spanien. Es gibt Kabuki Theater, Schleppnetzfischer, sehr dünne Luft auf sehr großer Höhe, Faschisten, Drogenschmuggler, einen Auftritt von Rasputin, psychedelische Feministinnen, Action, Sex, sehr unwahrscheinliche Wendungen und eine Öko-Aktivistin, die so offensichtlich das weibliche Spiegelbild von Corto Maltese ist, dass es sich eigentlich aufdrängt, irgendwann auch ihre Abenteuer zu erzählen.

 

Von Martin Quenehen gibt es bisher nichts auf Deutsch, nicht einmal Quatorze Juillet, einen Krimi, den er zusammen mit Bastien Vivès veröffentlicht hat. Sein Szenario wirkt manchmal etwas gehetzt, vor allem die Dialoge sind oft knapp – von einer japanischen Geheimagentin bleibt auch nach zwei Begegnungen unklar, was sie will oder gar ist. Andererseits passt das gut zu Corto Malteses ruhelosem Streifen über die Kontinente, das heute natürlich hektischer ist als in den alten Abenteuern, die vor 100 Jahren spielten. Langweilig wird es so jedoch nie, und wenn der Pirat in der Touristenklasse eines Interkontinentalflugs sitzt, schwingt eine leise nostalgische Ironie mit – auf einem alten Schoner wäre die Fahrt schöner.

Bastien Vivès ist erstaunlich nahe an Hugo Pratt, aber vielleicht war er das schon immer. Für mich ist der große Unterschied das Weiche in seinem Strich: Wo bei Pratt Ecken wären, sind bei Vivès Rundungen. Das Schwarz ist schwärzer, das Licht heller. Landschaften, Gefühle, Situationen, Menschen, Begegnungen, alles bleibt in einem tintigen Vagen, eher empfunden als gesehen. Krakelig wirkt das nie, eher geradezu unheimlich perfekt, trotz manch schiefen Strichs. Ich kann mir vorstellen, dass auch die alten Fans damit etwas anzufangen wissen.

 

Corto Maltese ist ein Klassiker, der gerne und oft zitiert wird, aber wie viel die Figur wirklich wert ist, hat mir erst im vergangenen Jahr ein Text von Boris Dežulović in der Nummer 282 des Kulturmagazins die horen klargemacht. Der kroatische Autor erzählt von Restaurants, Bars, Ferienwohnungen, Yachten, Cocktails und so weiter, die Corto Maltese heißen und in Kroatien, Rumänien, Bosnien, Italien, Frankreich, Griechenland, Martinique, Mexiko, Peru, Thailand, Vietnam, Madagaskar und natürlich Malta, dem Geburtsort des Seemanns, sind. Auf der ganzen Welt hat die Figur Menschen inspiriert, ihr das Lebenswerk oder zumindest einen Teil davon zu widmen. Das ist wahre Größe!

Corto Maltese ist keine Comicfigur, sondern ein Archetyp: die menschgewordene Poesie, die es ermöglicht, ein Leben jenseits der Grenzen der Gesetze oder der Wahrscheinlichkeit zu führen. Im Fluss der Zeit schwimmt Corto nicht wie so viele ambitionierte, realistische, sich für erwachsen haltende Menschen gegen den Strom, um überschaubare Ziele zu erreichen – er lässt sich treiben und findet dabei wunderbare Orte, die wir anderen niemals sehen werden. Damit ist er einer der Bewahrer der Träume und der Sehnsucht in einer Welt, in der nichts zählt, was du nicht festhalten kannst. Hugo Pratts große Leistung ist, diese Figur, diesen Traum in die Welt gesetzt zu haben. Und Martin Quenehen und Bastien Vivès halten ihn sehr gut am Leben.

[Peter Lau]

Abbildungen © 2022 Schreiber & Leser / Martin Quenehen, Bastien Vivès


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