Frisch Gelesen Folge 265: The End of the F***ing World

»Ich wusste, dass ich anders war als die meisten. Aber ich habe gelernt, mich die meiste Zeit über anzupassen.«


FRISCH GELESEN: Archiv


The End Of The F***ing World

Story: Charles Forsman
Zeichnungen: Charles Forsman

Luftschacht Verlag
Hardcover | 176 Seiten | s/w | 18,00 €
ISBN: 978-3-903-08194-9

Genre: Graphic Novel, Coming-of-Age

Für alle, die das mögen: Dunkle Erzählungen, deren Enden einfach nicht happy sein können



Wenn es auf Netflix eine Comicverfilmung gibt, kommt eigentlich nur eine einzige Frage, in den Sinn: Marvel oder DC? Zum Glück gibt es aber auch Ausnahmen, und The End Of The F***ing World ist eine davon. Auf dem deutschen Markt konnte man 2018 zuerst die Verfilmung streamen. Nun ist endlich auch die Vorlage beim Luftschacht Verlag auf Deutsch erschienen. Charles Forsman hat den Comic in den Jahren 2011 und 12 als sechzehn Minicomics im Eigenverlag aufgelegt. Angeblich druckte er von der ersten Ausgabe gerade mal 100 Stück, was den Comic aber nicht daran hinderte, auf viel Resonanz zu stoßen und auch Preise einzufahren.

Protagonist und Protagonistin der Geschichte sind James und Alyssa. In den ersten Kapiteln stellen sie sich uns nacheinander vor. Gerade James erzeugt dabei nicht viel Sympathie für sich. Mit neun begreift er, dass er keinen Humor hat, mit 14 fängt er an, Tiere zu töten und akribisch Buch darüber zu führen, mit 15 steckt er seine Hand in den Abfallzerkleinerer und mit 17 schlägt er seinen Vater und stiehlt sein Auto. Alyssa wirkt eher wie ein mehr oder minder durchschnittlicher Teenager aus einem dysfunktionalen Elternhaus, ohne Zugehörigkeit, verloren, stets fehl am Platz und angefressen von allem. Aber James berührt etwas in ihr, sie hat den Eindruck, dass sie ihn beschützen muss. Also steigt sie mit ihm in das gestohlene Auto und der Roadtrip beginnt. James gibt sich große Mühe, Gefühle für Alyssa zu entwickeln, die abseits von Tötungsfantasien liegen, was ihm aber nicht wirklich gelingt. Und obwohl bereits zu diesem Zeitpunkt viel extreme und exzessive Gewalt vorkam, war das erst das Prélude für das, was nun folgt. In einer unglaublich packenden und dichten Erzählung schickt uns Forsman auf eine Reise, von der direkt klar ist, dass sie keinen guten Ausgang haben kann.


Es wird uns nicht leicht gemacht, Sympathie für die Charaktere zu entwickeln.


Stilistisch arbeitet er hier mit erstaunlichen Mitteln. Der gesamte Comic ist in einer Art Viervierteltakt geschrieben – jedes Kapitel ist exakt vier Doppelseiten lang, hat ein Titelblatt mit Kapitelüberschrift und als Abschluss diesen merkwürdigen Kreis, der mit Ende jedes Kapitels stärker schraffiert und damit etwas dunkler, etwas schmutziger, etwas abgründiger wird. Wobei er am Ende in seiner vollkommenen Schraffierung durch seine Symmetrie und seine Tiefe schon wieder etwas Beruhigendes hat. Diese extreme Strukturierung, der der Comic unterliegt, gibt der Geschichte etwas Verbindliches, was nicht abzuwenden und besonders nicht aufzuhalten ist. Wie der gnadenlose Schlag einer tiefen Trommel werden wir vorangetrieben und in den Strudel des Comics hineingezogen.


Waren wir nicht alle ein wenig Alyssa in diesem gewissen Alter?


Zeichnerisch wählt Forsman einen simplen Strich. Geradlinige Tuschezeichnungen mit meist leeren Hintergründen bestimmen das Bild. Es ist nachzuvollziehen, dass der Comic als Vorlage für eine Verfilmung diente, da Forsman viele cineastische Techniken anwendet. Seine Figuren mit ihren kleinen Knubbelnasen und wenig ausgefeilten Gesichtszügen spiegeln die Grundstimmung der Erzählung sehr gut wider. Die Panelaufteilung ist ebenso schematisch und strukturiert wie der restliche Aufbau des Comics, was in schroffem Gegensatz zu den Inhalten stehen, die oft in kleinen, scheinbar nebensächlichen Bildern von Gewaltexzessen und kranken Menschen in einer kranken Gesellschaft erzählen. Eine der wenigen Stellen, in denen Forsman in die Totale geht und ganzseitige Bilder schafft, ist in der Szene, in der sich James und Aylssa gegenseitig die Haare schneiden, um ihr Aussehen gegenüber den Fahndungsfotos zu ändern. Hier fängt er diesen ruhigen und intimen Moment zwischen den beiden ein und ermöglicht so, Empathie für diese beiden geschundenen Seelen zu entwickeln.

Die Größe von The End Of The F***ing World liegt aber neben der genialen Erzählweise und der unglaublichen Dichte und obwohl streckenweise gar nicht viel zu passieren scheint besonders darin, dass sich der Comic natürlich auch als Metapher auf die amerikanische Gesellschaft lesen lässt. Denn es geht um viel mehr als um zwei Teenager außer Kontrolle, die von einem korrupten Polizeiapparat gejagt werden. Es geht um eine Gesellschaft, die immer mehr verroht, deren Verwahrlosung immer offener zur Schau steht, in der Missbrauch jeglicher Art, psychische Erkrankungen und Perspektivlosigkeit an der Tagesordnung sind. Auch wenn zwischendurch ein wohlwollender Mensch auftritt, geht er verloren in der Menge an Menschen, die sich nur um sich selbst drehen. Allein daher ist es klar, dass wir kein gutes Ende antreffen werden. Forsman macht sich nicht die Mühe, einen Lichtblick zu schaffen, er will aufzeigen und aufschrecken mit seinem Comic. Und das gelingt ihm hervorragend.


Der Rhythmus und die Struktur der Erzählung sind stark und einnehmend.


Auch wenn die Netflix-Serie eine geniale Adaption des Comics darstellt, nimmt sie ihr genau diesen Aspekt weg, weil die Geschichte nun in England angesiedelt ist. Wer also weder Comic noch Serie kennt, dem rate ich dringend dazu, zuerst den Comic zu lesen und dann noch die Serie zu schauen.

[Mechthild Wiesner]

Abbildungen © 2021 Luftschacht Verlag, Charles Forsman


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Oder beim Verlag: Luftschacht Verlag