»Ich bin nackt – na und!«
FRISCH GELESEN: Archiv
Stereo Total's Party Anticonformiste
Story: diverse
Zeichnungen: diverse
Ventil Verlag
Hardcover | 128 Seiten | Farbe | 25,00 €
ISBN: 978-3-955-75170-8
Genre: Songcomic
Für alle, die das mögen: Songs als Comics umgesetzt, Stereo Total, Françoise Cactus
Wie ein Paukenschlag ging im Februar 2021 die Meldung durch die deutsche Popkulturlandschaft: Françoise Cactus ist tot. Eine Ikone, eine Konstante hat ihr jähes Ende gefunden, denn es war klar, dass Stereo Total nicht ohne sie existieren kann. Und wenn mir hier jemand kommt und mir weismachen will, dass er/sie Stereo Total nicht kennt, ab in den Musikladen, Platten kaufen und hören. Es gibt immerhin 25 Stück davon. Stereo Total wurden 1993 gegründet und obwohl es zwischenzeitlich auch andere Akteure gab, lebte die Gruppe stets durch das Duo Brezel Göring und Françoise Cactus. Ihre Musik wird meist als Synthiepoppunk beschrieben, aber egal wie man den Stil genau beschreiben möchte, eins war er immer: antikonformistisch. Alleine deshalb war die Band ein fester Bestandteil meiner Studentinnenzeit, wurde auf jeder WG-Party gespielt, war auf jedem Mix-Tape vertreten und ich war natürlich auch auf einigen ihrer vielen, vielen Konzerte und mit Sicherheit niemals nüchtern. Die Texte waren oft witzig, manchmal auch ein wenig schwermütig, aber auf jeden Fall immer verdammt ehrlich und authentisch.
Milk + Wodka haben laut eigener Aussage mit und durch den Comic Françoise' Tod bewältigt, und das ist spürbar.
Viele der Texte, die aus Françoise' Feder stammten, drehten sich um das Thema Schönheit und das Schönsein. »Schön bist du von hinten« oder »Zu schön für dich«, um hier zwei Titel zu nennen. Optik und ästhetische Wahrnehmung spielten eine große Rolle in ihrem Schaffen. Umso mehr würde sie sich bestimmt über den nun im Ventil Verlag erschienenen Songcomic Stereo Total’s Party Anticonformiste freuen. Stereo Total ist die zweite Band, der die Ehre zuteilwird. Der erste Band, in dem Songs der Band Tocotronic als Comics visualisiert wurden, war bereits sehr erfolgreich, weshalb im Verlag der Beschluss gefasst wurde, aus der Idee eine Reihe werden zu lassen. Zwar stand Stereo Total bereits im Raum, da sie eine gute Nachfolge zu den doch sehr ernsten Texten von Tocotronic antreten würden, aber nach dem Tod von Françoise rückte der Gedanke erst mal in weite Ferne. Als der Verlag im Sommer 2021 dann doch an Brezel herangetreten ist, war der sofort begeistert. So wurde aus diesem Songcomic mehr als nur eine reine Darstellung von Stereo-Total-Songs, er wurde zu einem Nachruf, einer Hommage an die Grande Dame des Synthiepunks.
»Babystrich« als Geschichte, wobei der Song bereits eine Geschichte, die der Christiane F., aufgreift.
Wie beim Vorgänger wurden zehn Künstler:innen versammelt, die sich alle selbstständig einen Lieblingstitel auswählen und alle ihren ganz eigenen Zugang dazu visuell umsetzen durften. Die Auswahl der Illustrator:innen haben sich Brezel und der Verlag geteilt: Während Brezel den Fokus auf alte Weggefährt:innen und Menschen mit einem persönlichen Kontakt zu Françoise und der Band legte, wählte der Verlag Zeichner:innen aus, die als Fans und Bewunder:innen der Band den Blick von außen auf die Lieder warfen. Zusätzlich steuert Brezel Göring zu jedem Song zu Beginn seine persönlichen Liner Notes bei, in denen er Anekdoten zu dem jeweiligen Lied und zu Françoise abliefert. Zum Abschluss gibt es noch »Françoise' Geheimes Büchlein«, ein Anhang mit Bildern und Zeichnungen von Françoise selbst, die zeigen, was für eine umtriebige Künstlerin sie war.
Beim Lesen der einzelnen Songcomics habe ich mir erst mal eine Playlist angelegt, um die Lieder bei der Lektüre nachvollziehen zu können. Ich weiß nicht, warum der Ventil Verlag hier keine vorgegeben hat, wie er das beim Tocotronic-Band gemacht hat, aber sei's drum. Der Comic lässt sich natürlich auch ohne lesen, mit der akustischen Unterstützung lassen sich aber der Flow und die Intension der einzelnen Zeichner:innen besser erspüren. In einem Glossar stellen sich diese vor, sodass der individuelle Bezug zu Stereo Total deutlich wird. Wobei dieser bei den Comics auch so deutlich spürbar ist. »Dactylo Rock« von Milk + Wodka und auch »Tout le Monde se fout des Fleurs« von Christopher Tauber verarbeiten ihren persönlichen Schmerz über den Verlust von Françoise, wohingegen »Divines Handtasche« von Ricaletto und »Babystrich« von Eva Müller eine tiefe Verneigung vor dem künstlerischen Werk von Françoise sind.
»Divines Handtasche« als Wimmelbild, passend zum Lied wie auch zu der göttlichen Divine.
Dadurch, dass es keine Definition des Songcomics gibt, bleibt es den Illustrator:innen auch selbst überlassen, welchen Zugang sie wählen – ob sie eine Art Musikclip in Comicform schaffen oder ob sie eine Geschichte um den Song herum erzählen. Alle Zugänge sind einzigartig, die Zeichnungen individuell und definitiv nonkonformistisch. Um es mit den Worten Brezels zu sagen: »Wer Popmusik macht oder einen Comic zeichnet, der hat auch Spaß daran, den hohlen Ernst der Hochkultur auszulachen.« Das ist allen zehn Songcomics gemein wie auch der Musik von Stereo Total. Der Comic entlässt mich mit Tränen in den Augen und dem Hochgefühl, an etwas ganz Großartigem teilgehabt zu haben. Au revoir, Françoise!
[Mechthild Wiesner]
Abbildungen © 2022 Ventil Verlag
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Oder beim Verlag: Ventil Verlag