Frisch Gelesen Folge 380: Von der anderen Seite der Mauer

»Ein Nazi…, … ein Mörder…, … und ein Psychopath, der uns die ganze Zeit über schweigend überwacht. Dieses Team macht mich noch fertig.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Von der anderen Seite der Mauer

Story: Kid Toussaint
Zeichnungen: Tristan Josse

Zack Edition
Hardcover | 64 Seiten | Farbe | 20,00 €
ISBN: 978-3-949987-16-8

Genre: Spionagethriller, Historie, Funny

Für alle, die das mögen: Soda, Gesprengte Ketten (mit Steve McQueen), Der Tunnel (2002, mit Heino Ferch), Das Leben der anderen (2006), Tunnel 57: Eine Fluchtgeschichte als Comic



Nicht ganz freiwillig musste ich vergangenes Jahr mit dem Schienenersatzverkehr der Deutschen Bahn (sprich: Linienbus) von Stettin nach Berlin mehr als zwei Stunden quer durch die Uckermark und den Rest Brandenburgs fahren. Da bleibt es nicht aus, wenn vermeintlich längst vergessene Bilder wieder hochkommen: die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland, der Transit nach Berlin, Geschwindigkeitskontrollen hinter jedem größeren Busch, Kreuzberg, bevor es zum Exklusivviertel der Neureichen wurde, die Mauer und nicht zu vergessen der Fall der Berliner Mauer 1989. Kid Toussaint (Jahrgang 1989) und Zeichner Tristan Josse (Jahrgang 1988) werden diese Bilder nicht aus ihrer realen Erinnerung vor Augen gehabt haben, als sie sich an die Umsetzung ihres Comics Von der anderen Seite der Mauer gemacht haben. Aber es gibt ja genügend historisches Material, an dem man sich bedienen kann, und so gelingt es den beiden schon nach kürzester Zeit, dass man sich in die Zeit nach August 1961 zurückversetzt fühlt, als die Berliner Mauer gebaut wurde.

Julius Schwartz, Conrad Meyer, Hanna Hitzfeld und Ludwig Lohmann haben eines gemeinsam. Alle vier sind sogenannte Mauer-Pendler, die aus habgierigen, politischen oder romantischen Gründen sich auf immer neuen Wegen zwischen dem West- und dem Ostteil Berlins hin- und herbewegen. Das Ganze bleibt natürlich nicht unbeobachtet und so werden die vier durch den BND in Gestalt eines älteren Herren und einer wunderhübschen rothaarigen Frau rekrutiert, um am 13. August, dem Jahrestag des Mauerbaus, die größte Flucht von DDR-Bürgern in die westliche Freiheit zu organisieren. Um aufgrund ihrer verbotenen Grenzübertritte und der ostdeutschen Herkunft nicht an die Stasi verraten zu werden, willigen die vier letztendlich ein und schnell ist der Plan gefasst, die Flucht über einen Tunnel zu organisieren.

Der Tunnelbau verläuft natürlich nicht ohne Komplikationen und auch innerhalb der Gruppe kommt es zu erheblichen Spannungen, wobei letztendlich jeder den anderen verdächtigt, ein Spitzel der Stasi zu sein. Nicht ganz ohne Grund, den nach und nach wird die Geschichte der unterschiedlichen Charaktere erzählt, von der wohl jeder eine Leiche im Keller zu haben scheint, und lange bleibt offen, wer den nun tatsächlich der Verräter ist. Mit zunehmender Zeit wird auch der vermeintliche Plan des BND, DDR-Bürger zu befreien, infrage gestellt und so beginnt ein klassisches Katz-und-Maus-Spiel, sodass ich die Geschichte durch den geschickten Aufbau und den immer aufrechterhaltenen Spannungsbogen nicht mehr aus der Hand legen wollte.

Obwohl das Thema vor dem historischen Hintergrund nicht trivial und die Handlung nicht unbedingt kindgerecht ist, gelingt es Toussaint und Josse der Geschichte eine durchaus heitere Note abzugewinnen. Das liegt vor allem an den Zeichnungen von Josse – halbwegs realistisch, gepaart mit klassischen Elementen der frankobelgischen Schule –, die mich stak an Bastos und Zakusky (Corteggiani und Tranchand, Comicplus+) und Soda (Bocquet und Gazotti, Piredda Verlag) erinnern. Der Vergleich bietet sich auch deshalb an, weil auch bei diesen Geschichten der zum Teil ernste Hintergrund durch den semi-réaliste-Stil aufgelockert wird. Als sich die Handlung dann zuspitzt, explodieren Josses Zeichnungen geradezu und Panel kennen keine Grenzen mehr. Und dieser Stil erinnert mich dann auch leicht an den jungen Chris Scheuer zu Zeiten seines Sir Ballantime (Carlsen).

Von der anderen Seite der Mauer ist keineswegs das Erstlingswerk von Toussaint und Josse, aber nur von Toussaint ist mir bislang eine deutsche Veröffentlichung (Holly Ann, Splitter) bekannt. Angesichts der Qualität des vorliegenden Comics wird das aber wohl nicht lange so bleiben.

Von der anderen Seite der Mauer ist eine total spannende Geschichte, die zeichnerisch furios umgesetzt ist und einen nicht loslässt. Schön, dass es gelingt, ein trauriges Kapitel deutscher Geschichte auch mal mit einem Augenzwinkern zu erzählen.

[Stephan Schunck]

Abbildungen © 2023/2024 Zack Edition / Kid Toussaint, Tristan Josse


Den Comic gibt's im gut sortierten Comicfachhandel oder direkt beim Verlag: Zack Edition