»Ich bin ein Junge! Ein Junge. Ihr habt mich mit fiesen Brüsten und einer schrecklichen Stimme gemacht! Ich bin kein Mädchen! Ihr habt keine Tochter.«
FRISCH GELESEN: Archiv
Nennt mich Nathan
Story: Catherine Castro
Zeichnungen: Quentin Zuttion
Splitter
Hardcover │ 144 Seiten │ Farbe │ 22,00 €
ISBN: 978-3-96219-305-8
Genre: Coming of Age, Graphic Novel
Für alle, die das mögen: Alison Bechdels Fun Home, Tillie Waldens Pirouetten, Martina Schradis Ach, so ist das? oder Fernsehserien wie Transparent
Als Lila geboren wurde, war die Welt für ihre Eltern vermutlich völlig in Ordnung. Doch spätestens ab einem Alter von zwölf Jahren zeigt sich, dass Lila anders ist als die übrigen Mädchen. An dieser Stelle beginnen Catherine Castro und Quentin Zuttion, von ihrer Protagonistin zu erzählen. Von Lila, einem Mädchen, das sich zu Weihnachten schon mal ein Taschenmesser wünscht, stattdessen aber eine Hello-Kitty-Tasche geschenkt bekommt. Ein Mädchen, das sich gerne wie ein Junge kleidet und sich in geschlechtstypischer Kleidung unwohl fühlt. Und es bleibt nicht bei diesen materiellen Eigenheiten. Lila verspürt mit fortschreitender Zeit ungewöhnliche Gefühle, die sie sehr verwirren. Sie schwärmt für Mädchen, nicht etwa für Jungs, und fühlt sich auch sexuell zu ihnen hingezogen. Ist sie etwa lesbisch? Eine Frage, die sie zunächst nicht beantworten kann.
Ein Mädchen, das Jungs-Sachen haben will.
Die Reise, auf die uns Castro und Zuttion mitnehmen, ist gefühlsgeladen. Zuttions Zeichnungen, die eine Mischung aus Cartoon und Zeitschriftenillustration sind, halten in angenehmer Optik die einzelnen Phasen fest, die Lila durchlaufen muss, um zu erfühlen, was eigentlich mit ihr los ist. Eine ihrer ersten Freundinnen gibt ihr schließlich einen Fingerzeig: »Du bist nicht lesbisch, Mann. Ich meine, du bist ein Mädchen. Aber eigentlich bist du ein Kerl.« Kein Wunder also, dass sie sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt, ihre Weiblichkeit aber vehement ablehnt. Brüste sind eine furchtbare Sache, stellt sie fest, und die Tatsache, dass sie regelmäßig ihre Tage hat, mag sie ebenso wenig hinnehmen. Sie träumt davon, sich die Brüste abzureißen, und ritzt sich sogar am Arm, um Druck abzubauen. Das fällt aber in der Schule auf und bleibt nicht ohne Konsequenzen. Einerseits für Lila, der langsam klar wird, dass sie tatsächlich ein Junge ist. Ein Junge aber, der in einem weiblichen Körper gefangen ist. Andererseits für ihre Eltern, die sich wohl oder übel darauf einstellen müssen, dass aus ihrer Tochter ein Sohn werden wird.
Blöd, wenn einem der eigene Körper nicht gefällt.
Lila besteht irgendwann nicht nur darauf, Nathan genannt zu werden, sondern bemüht sich auch um eine Geschlechtsumwandlung. Ihre Eltern nehmen das zunächst irritiert zur Kenntnis, unterstützen Nathan schließlich aber tatkräftig. Sie sind zwar frustriert, akzeptieren aber die Entscheidung ihres Kindes. Erstaunlich, Freundeskreis und Umgebung kommen damit ebenfalls gut zurecht. Beim Schulsport zum Beispiel darf Nathan mit den Jungs trainieren. Und als Nathans Psychologe ohne Umschweife attestiert, dass er nicht verrückt ist, kann das Projekt »Umwandlung Frau zu Mann« starten.
Ist man automatisch lesbisch, wenn man auf Frauen steht?
Mancher wird an dieser Stelle kritisieren, dass hier ein Wohlfühlcomic entstanden ist, der zeigt, dass solch eine weitreichende persönliche und körperliche Entscheidung auf vergleichsweise geringe gesellschaftliche Hindernisse stößt. Das kann ich nachvollziehen, aber der positive Ansatz, den die Autoren gewählt haben, gefällt mir sehr. Schließlich leben wir in einer Zeit, in der Teile der Gesellschaft Homosexuelle immer noch als krank ansehen und mit höchst bizarren Therapien »heilen« wollen. Ja, ich finde es toll, dass dieser Comic behauptet, dass von einer Geschlechtsumwandlung die Welt nicht untergeht, diese in einer Familie von nebenan vorkommen kann und dass die nähere Umgebung diesen Umstand aushält. Auch wenn es nicht ohne anfängliche Schwierigkeiten geht. Es ist schön, dass es hier nicht nur um Nathan geht, sondern auch die Eltern angemessen zu Wort kommen. Die Mutter, die sich zunächst sorgt, dass ihre Tochter lesbisch ist und für die es dann noch eine Stufe härter kommt. Oder der Vater, der damit klarkommen muss, dass er seine Tochter Lila verloren hat und dafür seinen Sohn Nathan bekommen wird.
Der Schein trügt – Lila wird noch eine Weile brauchen, um zu ergründen, wie sie tickt.
Beim Lesen wundere ich mich aber auch über mich selbst. Ich bin überrascht, dass ich zwar glaube, mich in homosexuelle Menschen hineinversetzen zu können, beim Thema Geschlechtsumwandlung gedanklich aber streike und mir das so gar nicht vorstellen kann. Vielleicht, weil ich keine Transsexuellen kenne? Und da hilft mir dieser Comic weiter, indem er eine positive Geschichte erzählt. Die beinhaltet natürlich auch ein paar Tiefpunkte, berichtet aber viel vom Abenteuer Leben und vom Erwachsenwerden, von ersten Reisen, ersten Liebschaften und Discothekenbesuchen. Eben voll normal das Ganze, nur unter nicht ganz so üblichen Rahmenbedingungen.
[Walter Truck]
Abbildungen © 2019 Splitter
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