Frisch Gelesen Folge 393: Elise und die neuen Partisanen

 

»Selbstüberwachte Freiheit, Entbehrungen, Frustrationen, aber ideologisch stark, das ja!«


FRISCH GELESEN: Archiv


Elise und die neuen Partisanen

Story: Dominique Grange
Zeichnungen: Jacques Tardi

All Verlag
Hardcover | 180 Seiten | s/w | 29,80 € (VZA: 49,80 €)
ISBN: 9783968042411

Genre: Biografie

Für alle, die das mögen: Elender Krieg, Das Mädchen aus der Volkskommune



Elise und die Partisanen beginnt am 17.10.1961, dem Tag des Massakers von Paris. An diesem Tag protestierten mehrere Zehntausend Algerier auf den Straßen von Paris für die algerische Unabhängigkeit. Die Demonstration verlief friedlich, doch die Stadtverwaltung hatte zwei Wochen zuvor eine nächtliche Ausgangssperre für Algerier erlassen, und so gab der damalige Polizeipräfekt Maurice Papon zur Auflösung der Demo einen Schießbefehl, den die Polizei ausführlich befolgte. Die genaue Zahl der von der Staatsgewalt Ermordeten ist bis heute unklar, Schätzungen liegen bei 200 bis 500 Toten, noch Tage später wurden Leichen aus der Seine gefischt. Das Massaker wurde lange totgeschwiegen, und Papon, der als Kollaborateur im Vichy-Regime die Deportation von Juden verantwortete, also aktiv Täter im Holocaust war, wurde nie belangt. Eine offizielle Aufarbeitung der Ereignisse begann erst in diesem Jahrtausend.


Es ist nicht ganz klar, warum Dominique Grange, Autorin und quasi Protagonistin dieser Graphic Novel, mit dem Staatsverbrechen beginnt: War es für sie persönlich ein wichtiger Schritt zur Politisierung? Oder soll es einfach die Brutalität des Staates zeigen? Tatsächlich ist das Massaker ein Beleg für eine Linie des stillen Faschismus in Frankreich, wo es nicht mal eine halbgare Entnazifizierung gab wie in Deutschland. Viele der Ereignisse in diesem Buch wären auch in einem neofaschistischen Regime vorstellbar – die staatliche Gewalt ist irre. Aber Grange ordnet das nicht ein, klärt nicht auf und schafft keine Zusammenhänge. Stattdessen empört sie sich, erzählt Anekdoten und verurteilt. Täte sie das online, würden alle sagen: Clickbait.


Das Buch erzählt Dominique Granges Leben als politische Aktivistin in den 60er- und 70er-Jahren. Es sei an ihre Biografie angelehnt, heißt es offiziell, aber mein Verdacht ist, dass diese Sprachregelung sie nur vor eifrigen Beamten schützen soll, die ihr noch Jahrzehnte später aus irgendwelchen Details einen juristischen Strick drehen könnten.

Grange kommt aus der Provinz nach Paris, um Sängerin zu werden, was ihr auch gelingt, doch zugleich verschärft sich fast sofort ihre Politisierung, die bereits während ihrer Schulzeit begonnen hatte. Als im Mai 1968 der Aufstand beginnt, entscheidet sich die Idealistin gegen die Karriere und für die Revolution. Sie geht auf die Straße, wo es nicht anders ist als 1968 in Deutschland, und wird von prügelnden Polizisten, mit denen sie schon zehn Jahre zuvor auf den Straßen Lyons erste Bekanntschaft gemacht hatte, in die Radikalisierung getrieben.


Doch der Aufstand beschränkt sich in Frankreich nicht auf Universitäten. Zeitgleich wird überall gestreikt, und so beginnt Grange, gemeinsam mit vielen anderen Künstlern, durchs Land zu fahren und die Streikenden in den Fabriken mit Konzerten zu unterstützen. Es ist eine optimistische Zeit, in der es kurz möglich scheint, die Ausbeutung der Arbeiter durch das Kapital zu beenden und eine gerechtere Welt zu schaffen. Woraus, wie wir alle wissen, nichts wurde.

Aber Grange lässt sich nicht unterkriegen. Sie geht in die Betriebe, um dort als Arbeiterin revolutionäres Bewusstsein zu verbreiten. Da ist sie bereits Maoistin und steht zudem der Stadtguerilla nahe – in der Sequenz nach dem Massaker von Paris, zehn Jahre später, geht es um einen Unfall beim Bombenbauen. Im Anschluss verschwindet sie für einige Jahre im Untergrund.


Ich weiß nicht, ob es dieses Buch gäbe, wäre die Autorin nicht seit 1983 mit Jacques Tardi verheiratet, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es niemals in Deutschland veröffentlicht worden wäre. Vor allem anderen, einer politischen Biografie, einer historischen Erzählung oder einem Blick in den politischen Untergrund der 60er- und 70er-Jahre, ist es eben vor allem: der neue Tardi. Und als solcher zumindest ist es gut.

Insbesondere die Straßenschlachten sind beeindruckend. Wer Tardis Bücher über den Ersten Weltkrieg kennt, weiß, wie der Franzose Schlachtgetümmel in Wimmelbilder umsetzt, was hier ebenfalls bestens funktioniert. Aber auch die vielen unterschiedlichen Charaktere mit ihren kleinen und großen Gefühlen kommen gut rüber. So mancher schräge Blick bringt sogar, wie einst bei Nestor Burma, ein bisschen Humor, der dem Band ansonsten komplett fehlt. Es ist alles sehr ernst: Mord! Gewalt! Ausbeutung! Unrecht! Weltrevolution! Witze? Machen wir hinterher.


Dominique Grange erzählt nicht nur nichts über die historische Lage, die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Kapitalverhältnisse oder die herrschenden Kräfte – selbst die Darstellung der linken Szene geht nicht über das Oberflächlichste hinaus. Sie listet zwar ausführlich diverse linke Organisationen samt Kürzel auf, die Übersetzer Ulrich Pröfrock dankenswerterweise im Anhang über drei Seiten sehr gut erklärt. Aber wer diese Leute sind, woher sie kommen, was sie denken, antreibt oder unterscheidet – kein Wort. Selbst die Protagonistin wirkt wie ein Pappcharakter aus Idealismus, Verbissenheit und Wut. Ohne jegliche Reflexion: Wäre es vielleicht besser gewesen, für etwas zu kämpfen statt gegen etwas? Etwas aufbauen statt etwas zerstören zu wollen? Ach was! Es war alles gut, es war alles richtig!

Als ich begann, mich für Politik zu interessieren, befand sich Deutschlands radikale Linke bereits in der Auflösung. Ich erlebte an der Uni noch die marxistische Gruppe, die Seminare Stören für politische Arbeit hielt und die Verelendung der Werktätigen forderte, damit die endlich Revolution machten. Ich lernte Ex-Führer des Kommunistischen Bundes kennen, die sich mit den Parteimillionen davon gemacht hatten, und kotzte bei Ex-Maoisten wie Horst Mahler oder Reinhold Oberlercher, die große Nummern bei der NPD wurden. Das waren Leute, die vieles verstanden hatten, aber sich letztlich mehr für sich selbst als für irgendwas anderes interessierten. So wie Dominique Grange.


[Peter Lau]

 

Abbildungen © 2024 All Verlag / Dominique Grane, Jacques Tardi


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