Frisch Gelesen Folge 295: Chinaman

»Bist du also wieder da, du Hurensohn?«


FRISCH GELESEN: Archiv


Chinaman – Gesamtausgabe Band 1

Story: Serge Le Tendre
Zeichnungen: Olivier TaDuc

Salleck Publications
Hardcover | 240 Seiten | Farbe | 34,90 €
ISBN: 978-3-89908-757-4

Genre: Western

Für alle, die das mögen: Durango, Lone Wolf & Cub, Comanche, Buddy Longway, Bouncer


 

Als ich ein Kind war, durfte ich eines Abends mit meinen Brüdern und Eltern einen Film ansehen. In den Hauptrollen die Ikonen des Kinos der 1970er Jahre: Charles Bronson, Alain Delon, Ursula Andress und der unvergessene Toshirô Mifune. Der Streifen hieß Rivalen unter roter Sonne und es geht um einen Samurai, der im Wilden Westen um seine Ehre kämpft. Der Film zog mich wie magisch in seinen Bann. Zwar waren mir aus den unzähligen Serien und Filmen die Klischees des Western hinlänglich bekannt, aber das Aufeinandertreffen von Revolverhelden und Schwertkämpfern fand ich damals faszinierend.

Nichts hat sich daran geändert in den letzten Jahrzehnten. Der Film übt nach wie vor eine große Faszination auf mich aus, die vor allem auf dem Aufeinanderprallen von Western und Eastern basiert. Das habe ich auch gemerkt, als ich das erste Mal auf Chinaman im ZACK-Magazin stieß – das muss 2003 gewesen sein. Umso erfreuter bin ich, dass Salleck Publications nun endlich eine Gesamtausgabe der Serie startet, deren Einzelausgaben längst vergriffen sind.

In dem von Serge Le Tendre entworfenen Plot geht es um Chen Long Anh, der bei seiner Ankunft aus China von den Einwanderungsbehörden in San Francisco in Chinaman umbenannt wird. Wie so viele Anti-Helden aus dem Bereich der Italowestern reist auch Chinaman umher, lässt sich treiben und wird immer wieder in Geschichten hineingezogen, in denen er sich für die Unterdrückten und Schwachen einsetzt – ein klassischer Westernheld im Gewand eines chinesischen Schwertkämpfers. Der erste Band der Gesamtausgabe enthält die ersten vier Bände der Serie.

Während der erste Band der Serie noch mitunter umständlich und langatmig in die Thematik einführt, sprich, wie kam es dazu, dass der ehemalige Söldner Chinaman das Joch der Triaden abwirft und gezwungen ist, als unsteter Reisender eine neue Welt zu entdecken, nimmt die Geschichte mit Band zwei richtig Fahrt auf. Die Dialoge sitzen, sind auf den Punkt und führen uns durch eine spannende Geschichte mit unterschiedlichen Handlungssträngen. Besonders bemerkenswert ist die Tiefe der Charaktere, wie Le Tendre sie angelegt hat. Dabei ist es dem Schöpfer-Duo gelungen, diese ohne lange Textstrecken zu entwickeln. Einzig die Zeichnungen und die Handlungsverläufe führen dazu, dass die Protagonisten Tiefe und Authentizität erhalten. Dazu wären auch nicht die pseudo-philosophischen Anmerkungen à la »Doch niemand hat mich gelehrt, sehnsüchtige Erinnerungen zu bekämpfen« aus dem Off notwendig, die das Niveau von Sprüchen aus dem Küchenkalender kaum übersteigen. Da es sich hierbei aber um kurze Ergänzungen handelt, können sie vernachlässigt werden und trüben den großen Spaß an dem Band keineswegs ein.

Die Originalität dieses Western besteht darin, die Handlung auf eine atypische Hauptfigur (einen chinesischen Einwanderer) zu konzentrieren und Abenteuer vor dem Hintergrund eines ursprünglichen Kontexts (dem der chinesischen Einwanderung in die Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) zu erzählen. Ich habe es genossen, die Reise dieses gerechtigkeitsliebenden chinesischen Einwanderers zu verfolgen, der in den 1850er Jahren den amerikanischen Westen durchquerte, auf der Suche nach seiner Identität und immer auf der Suche nach Freiheit, konfrontiert mit dem Rassismus der Weißen. Chinaman kämpft darum, seinen Platz in dieser rauen Welt zu finden.

Neben der satten, dabei niemals absaufenden Farbgebung sind es vor allem die Zeichnungen, die detailliert und mit viel Fingerspitzengefühl den typischen Charakter amerikanischer Wildwest-Kleinstädte mit Ihren Cowboys, Huren, Sheriffs und korrupten Politikern heraufbeschwören. Olivier TaDuc hat besonders die zahlreichen Kampfszenen hervorragend choreografiert und mitreißend angelegt. Dazu kommen die sehr gelungenen Panoramabilder der gewaltigen Landschaften, die sich nicht hinter den meisterhaften Panels eines François Boucq aus Bouncer verstecken müssen.

Chinaman ist ein Beweis dafür, dass im Kulturschmelztiegel »Wilder Westen« große und fesselnde Geschichten entstehen können, wenn die Künstler sich darauf einlassen, unterschiedliche Kulturen aufeinanderprallen zu lassen. Ich gebe neun von zehn Jiàns.

[Bernd Hinrichs]

Abbildungen © 2022 Salleck Publications / Serge Le Tendre, Olivier TaDuc


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