Frisch Gelesen Folge 240: Snow, Glass, Apples

 In Neil Gaimans Neuinterpretation eines bekannten Märchens schlummert das Unbewusste unter der Oberfläche.

»Die kleine Prinzessin presste ihren Mund auf meine Hand, leckte, saugte und trank.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Snow, Glass, ApplesBereits Colleen Dorans Titelbild sieht vielversprechend aus.

Story: Neil Gaiman
Zeichnungen: Colleen Doran

Splitter
Hardcover | 64 Seiten | Farbe | 19,80 €
ISBN: 978-3-96792-031-4

Genre: Märchen

Für alle, die das mögen: Der Fluch der Spindel, Märchen (für Erwachsene), Art nouveau und Art déco


Es war einmal ... vor gar nicht allzu langer Zeit. Als in London Olympische Spiele gefeiert wurden, nahm ich in Dublin im Bewley's Cafe unter wundervollen Glasmalereien Platz und trank einen Tee. Im selben Sommerurlaub besuchte ich eine Ausstellung über deren Schöpfer, den irischen Glasmaler und Buchillustrator Harry Clarke (1889-1931), – wo genau, ob in Dublin, Cork oder andernorts auf der Grünen Insel, erinnere ich nicht mehr. Obwohl das keine zehn Jahre zurückliegt, erscheint die erste Begegnung mit Clarkes Werk wie eine Erinnerung aus einem anderen Leben, wie auch seine Bilder jenseitig anmuten. Colleen Doran hat ihre Zeichnungen an Clarkes vom Art déco, vor allem aber vom Art nouveau beeinflussten Stil orientiert. Eine passende Wahl, um eine Geschichte aus Neil Gaimans Feder zu illustrieren, muten die Storys dieses modernen Mythen- und Märchenerzählers doch ebenfalls wie aus einer Zwischenwelt an.

Dorans Zeichnungen orientieren sich an den Illustrationen und Glasmalereien des Iren Harry Clarke ...


Die große Kunst des 1960 geborenen Briten besteht darin, uns nichts vollkommen Neues zu erzählen. Im Grunde macht das jeder Autor so, doch bei Gaiman, so scheint es, schimmern die Sagen, Mythen und Märchen, die Schauer-, Kriminal- und Fantasyromane, die alten und neuen Götter und Helden, aus denen er seine Ideen schöpft, stärker durch als bei anderen. Seine Geschichten sind kunstvolle Geflechte aus Allusionen und Similaritäten, aus Referenzen und Reverenzen. Meist variiert Gaiman Altbekanntes nur minimal. Der Dreh, den er dafür findet, ist jedoch so entscheidend, dass es uns nicht langweilt, sondern fasziniert.

... und erinnern an die Kunst des Jugendstils.


Gaimans berühmteste Serie Sandman ist voll davon. Bei der Lektüre von Snow, Glass, Apples kommt einem noch ein anderer Comic in den Sinn, der wie der vorliegende strenggenommen gar kein Comic ist. Auch in Der Fluch der Spindel (Knesebeck, 2015) erzählt Gaiman das Märchen Schneewittchen neu, verwebt die Geschichte aber – wie es der Titel bereits vermuten lässt – mit einem zweiten Märchen: Dornröschen. Und macht aus den zwei Prinzessinnen emanzipierte Frauen, die nicht darauf warten, von einem Mann wachgeküsst zu werden. Für die Comicversion hat Gaiman nicht eigens ein Szenario geschrieben. Zeichner Chris Riddell hat schlicht und einfach und in sehr feinen, an Kupferstiche erinnernden Zeichnungen Gaimans ein Jahr zuvor veröffentlichte Kurzgeschichte illustriert.

Chris Riddell setzte eine andere von Gaimans Märchen-Neuinterpretationen ganz anders um. Seine Zeichnungen erinnern an Kupferstiche.


Die Kurzgeschichte, die Snow, Glass, Apples zugrunde liegt, ist noch älter. Erstmals wurde sie 1994 veröffentlicht und von Charles Vess illustriert. Auch in Gaimans Kurzgeschichtensammlung Smoke and Mirrors (1998) war sie enthalten und erschien 2002 in einer limitierten Auflage für ein Hörspiel ein weiteres Mal, diesmal mit Illustrationen von George Walker. Colleen Dorans Umsetzung, die sie in einem zehnseitigen und mit Skizzen versehenen Anhang erläutert, ist nicht nur die am umfangreichsten, sondern auch die am schönsten illustrierte:

Colleen Dorans Zeichnungen füllen auch imposante Doppelseiten wie diese.


Es war einmal ... vor gar nicht allzu langer Zeit. Als in Tokio Olympische Spiele gefeiert wurden, nahm ich zu Hause in meinem Lesesessel Platz, Snow, Glass, Apples in die Hand und trank einen Tee. Bei der Lektüre hielt Gaiman für mich gleich mehrere Drehs und Wendungen bereit. Aus der Perspektive von Schneewittchens Stiefmutter erzählt, kehrt er die Rollen um. Die vermeintlich böse Königin ist eine gute, auf das Wohl ihrer Untertanen bedacht und im Grunde selbst noch ein Kind. Was Gaiman aus ihrem Stiefkind macht, sei an dieser Stelle nicht verraten, nur so viel: In diesem ungeheuerlichen Update, das den Grausamkeiten der Märchen der Brüder Grimm sehr viel näherkommt als deren kindgerecht aufbereitete Disney-Varianten, gehen Blutdurst und Geschlechtslust Hand in Hand und nehmen einige düstere Abzweigungen. Manche davon erschrecken auf den ersten Blick, sind letzten Endes aber nur konsequente Auslegungen dessen, was unter der Oberfläche des Originalmärchens im Unbewussten schlummert.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann morden sie noch heute.

[Falk Straub]

Abbildungen © 2021 Splitter / Neil Gaiman, Colleen Doran
Abbildung (aus Der Fluch der Spindel) © 2015 Knesebeck / Neil Gaiman, Chris Riddell


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