Frisch Gelesen Folge 381: Carmilla

 

»Athena, ich weiß, wie du sein kannst. Verrenn dich nicht in diese Sache. In dieser Stadt sterben ständig Leute.«


FRISCH GELESEN: Archiv


Carmilla. Die erste Vampirin

Story: Amy Chu
Zeichnungen: Soo Lee

Splitter
Hardcover | 112 Seiten | Farbe | 22,00 €
ISBN: 978-3-98721-192-8

Genre: Thriller, Horror

Für alle, die das mögen: Through the Woods, Something is Killing the Children



Niemand zwingt seine Leserschaft öfter mit den Fingernägeln in den Tisch zu bohren als Szenaristin Amy Chu und Zeichnerin Soo Lee. Denn bei der Lektüre ihrer Version von Carmilla rollt die Verzweiflung mehrmals an – zwischen zugegeben ein paar guten Momenten. Und falls man ihren Comic nicht an einem Tisch liest, versetzen die etwas mehr als einhundert Seiten die Leserschaft imaginär an einen unbequemen Tisch mit einem knarzigen Stuhl, alles in einer Kombination, die mit nur wenigen Zentimetern Unterschied ja vielleicht doch noch bequem werden könnte, weswegen man ständig mit dem Nachjustieren der Motive und Ideen zugange ist und sich nicht mehr auf das Wesentliche konzentrieren kann. Das Wesentliche bei Carmilla wäre ja irgendwas mit Vampiren.

Natürlich bezieht sich der Titel auf die 1872 erschienene und gleichnamige Novelle des irischen Autors Sheridan Le Fanu, aber Chu wollte ebenso mit nichtwestlichen Mythen rund um Blutsauger arbeiten. Modern sollte es sein. Und LGBTQ+ musste ebenfalls rein. (Was ja anders auch Unsinn wäre, schließlich ist das bereits bei Le Fanu ein Thema.) Könnte alles funktionieren. Tut es nur zu selten.

Die Handlung im Schnelldurchlauf: Mordserie in New York im Januar 1996 an jungen und queeren Frauen. Sozialarbeiterin Athena nimmt sich der Sache an, weil es sonst niemanden interessiert. Im Nachtklub Carmilla recherchiert sie, schaut mal in Le Fanus Roman, eine mysteriöse Fremde taucht auf, die sich in ihr Leben einnistet, was wiederum ihre Beziehung zu ihrer vorherigen Freundin in die Brüche gehen lässt. Und ihr Opa kann Tai Chi. All dies liest sich bei Chu und Lee allerdings wie für eine mögliche Netflix-Adaption geschrieben, alles mutet mehr wie ein Storyboard an.

Chu und Lee nehmen sich keine Zeit für ihre Figuren, weswegen nichts so richtig ineinandergreift, der Comic wie ein großes Andeuten scheint. Dass Athenas Opa Tai Chi kann, ergibt nur für den Plot Sinn, aber nicht für die Figur, die sich am Ende als hervorragender Schwertkämpfer erweist. (Spätestens da haben die Finger die Tischplatte durchbohrt.) Athena mag eine »ungeniert fehlerhafte Figur« sein, wie Chu im Nachwort schreibt. Dass sie diesem endlos dämlichen Klischee einer mysteriösen Fremden aber so leicht auf den Leim geht, dürfte selbst ihr nicht passieren. Schließlich wird sie in New York mal ein Kino von innen gesehen haben.

Da kann Soo Lee noch so sehr den Stil alter Vertigo-Klassiker aufgreifen und mit der Farbpalette für Atmosphäre sorgen: Carmilla ist auch einfach kein richtiger Horrorcomic. Dafür hat die Geschichte viel zu wenig Interesse an ihren Figuren. Wenn sich alles auflöst, fühlt es sich fast egal an, weil die Charaktere so flüchtig erscheinen. Da nützt das Zitat von James Tynion IV. auf der Rückseite nichts, das von einer anspruchsvollen und modernen Neuinterpretation kündet – denn zumindest eins der beiden Adjektive ist gelogen. Und wenn man den eigenen Tisch beim Lesen schon ruiniert hat, sollte man sich nicht auch noch über ihn ziehen lassen.

[Björn Bischoff]

Abbildungen © 2024 Splitter / Amy Chu, Soo Lee


Den Comic gibt's im gut sortierten Comicfachhandel oder direkt beim Verlag: Splitter