Frisch Gelesen Folge 76: Thorgal 35

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»Ja, so wie es ein Fehler war, deine Frau und deine Tochter zu verlassen und Wüsten und Ozeane zu durchqueren, um mich zu suchen, wo dich doch nicht die Liebe, sondern die Pflicht antreibt.«
»Wovon sprichst du, Aniel?«
»Von der Pflicht des Vaters, der Pflicht des Ehemanns. Das sind die einzigen, denen du dich nie gebeugt hast! Aber deine Pflicht als Sohn der Sterne? Deine Pflicht als bester Bogenschütze der Reiche? Was hast du mit all diesen Gaben gemacht? Was hast du verändert? Was aufgebaut? Deine Familie ist kaputt. Dein Haus in Trümmern …«


FRISCH GELESEN: Archiv


Thorgal 35 Titelbild

Thorgal Band 35: »Scharlachrot«

Story: Xavier Dorison
Zeichnungen: Grzgorz Rosinski

Splitter
Hardcover | 56 Seiten | Farbe | 14,80 €
ISBN: 978-3-86869-372-0

Genre: Fantasy, Abenteuer

Für alle, die das mögen: Elfen, Die Schiffbrüchigen von Ythaq, Siegfried


 

Was macht eigentlich Thorgal? Der »letzte Sohn der Sterne« debütierte Mitte der 1970er Jahre und just ist sein 35. Album bei Splitter erschienen. Als sich der Belgier Jean van Hamme Thorgal ausdachte und die ersten sechs von Grzegorz Rosinski gezeichneten Seiten der Geschichte »Die Rache der Zauberin« im Magazin Tintin veröffentlicht wurden, war das Genre Fantasy ziemlich angesagt. In den USA hatte der Verlag Marvel Robert E. Howards schlagkräftigen Barbaren Conan seit einigen Jahren erfolgreich für die Comics revitalisiert, so kam damals in Belgien und Frankreich ein Fantasy-Held für das etwas schwächelnde Vorzeigemagazin gerade zur rechten Zeit. Doch Thorgal war anders. Zwar konnte er ähnlich wie sein US-Pedant gut mit einem Schwert umgehen und sah sich mit allerlei Magie konfrontiert, doch er war ein herzensguter Mensch, geradezu edel, und tötete nur im Notfall.

Van Hamme hatte seine Saga in einem fiktiven Europa zur Zeit der Wikinger verwurzelt und sie mit einem abwechslungsreichen Storymix verbunden, das stark von der nordischen Mythologie geprägt ist. So sind bereits während der Anfangsphase in »homöopathischen Dosen« Zauberer, Hexen, Riesen, Zwerge, und im Lauf der Jahre sogar die Götter Asgards mit von der Partie, die ihren Einfluss auf Midgard geltend machen wollen. Das ist Rosinski entgegen gekommen, der auf historische Akkuratesse keinen Wert legt und das frühmittelalterliche Leben in Skandinavien um 800 nach Christus lieber nach eigenem Gutdünken entworfen hat, statt es im Detail allzu genau zu nehmen.

Thorgal 35 Leseprobe

Ketchup sieht anders aus: Blut, Blut, Blut - wohin das Auge blickt, im neuen Thorgal

 

Liest man »Scharlachtrot«, den neusten Band, der nach einer Pause von mehr als dreieinhalb Jahren nach Band 34 erschienen ist, glaubt man sich im falschen Film. Nichts fühlt sich mehr wie Thorgal an. Das liegt aber nicht nur daran, dass mitten in der bisherigen Orient-Story um die Suche nach seinem zweiten Sohn Aniel der langlebigen Serie ihr Szenarist abhanden gekommen. Xavier Dorison (Long John Silver) hat den Stab von Yves Sente übernommen und man war gespannt, wie sich das auswirkt auf diese traditionsreiche Reihe, die für viele als eine der besten europäischen Fantasycomicserien aller Zeiten gilt.

Leider ist der Name des Storytitels Programm. Es fließt liter- bzw. seitenweise Blut und die Geschichte strotzt vor direkter und indirekter Gewalt. Und zwar so stark, dass man sie nicht mehr guten Gewissens in einem Familienmagazin wie Tintin hätte veröffentlichen können. Schon nach wenigen Seiten der Lektüre beschlich mich das Gefühl, dass dies nicht mehr der Thorgal ist, den ich kannte, lieben und schätzen gelernt hatte. Würde es sich um eine bewusste Neuinterpretation handeln, um die Serie moderner und flott für eine neue Lesergeneration zu machen, könnte ich es noch verstehen, aber Dorison lässt die Gelegenheit aus, der von seinem Vorgänger Sente in die Sackgasse gefahrenen Handlung in Bagdad um den fiesen roten Priester und seinem bösartigen Kult, eine Wende zu geben. Statt dessen muss man sich durch viel Gelaber lesen und eine Ansammlung an wirren nicht nachvollziehbaren Handlungen von lauter unsympathischen Charakteren ertragen. Wer wen mit einem Schwert erschlägt, mit einem Dolch ersticht oder mit einem Speer durch den Hals ins Jenseits befördert, ist spätestens nach der Hälfte der Lektüre völlig egal.

Thorgal 35 Leseprobe

Es wird was geboten, wenn man Mitglied einer Sekte wird ...
Thorgals junger Sohn Aniel nimmt's mit Fassung

 

Zu allem Unglück merkt man es der Zeichenkunst von Rosinski an, dass er inzwischen zum alten Eisen gehört. Zwar stimmen Panelaufteilung, Proportionen und Storytelling nach wie vor, und seine einzigartige Farbgebung ist immer noch beeindruckend, aber die »couleur directe« wird zunehmend verschwommener und gibt so manchem Bild einen zu starken gemäldehaften Touch und lässt mitunter sogar Actionsequenzen statisch erscheinen.

Hinzu kommt, dass dieser Band insgesamt für Einsteiger absolut ungeeignet ist, nicht nur wegen seiner Qualität, sondern auch weil zu viel Vorwissen benötigt und die Handlung der vorigen Bände nicht klar zusammengefasst wird. Eine weitere vertane Chance, denn neue Leser könnte Thorgal sehr gut vertragen.

Thorgal 35 Leseprobe

Viel Gerede:
Vater und Sohn dialogisieren viel miteinander und letztlich aneinander vorbei ...

 

Was für ein Glück, dass Thorgal am Ende des Albums in seine nordische Heimat aufbricht. Buchen wir also das Orientabenteuer als Albtraum ab und freuen uns auf ein Wiedersehen mit Kriss de Valnor, die eigentlich hätte tot sein sollen …

Einen abschließenden Gedanken hätte ich noch: Vielleicht ist es an der Zeit, nun auch den Zeichner zu wechseln. Ein würdiger Kandidat ist Roman Surzhenko, der mit der Gestaltung der Spin-Offs Lupine und Die Jugend von Thorgal eindrücklich beweist, dass er die Optik Thorgals beherrscht wie kein Zweiter und vor allem wie Rosinski in seinen besten Zeiten.

[Matthias Hofmann]

Abbildungen © 2017 Splitter Verlag


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