avant-verlag Programmvorschau Herbst 2017 - Interview mit Johann Ulrich

Der Aufmacher des Herbstprogramms ist eine Reise an die Grenzen Europas. Welche Comics der Berliner avant-verlag für das zweite Halbjahr sonst noch im Gepäck hat und wie politisch diese sind, darüber hat sich Verlagsleiter Johann Ulrich mit CRON unterhalten.

CRON fragt. Johann Ulrich antwortet.germany48
Der Verlagsleiter im Interview

Johann UlrichAls Titelbild eures Herbstkatalogs habt ihr das Cover von Carlos Spottornos und Guillermo Abrils Der Riss gewählt, das eine aus dem Meer gerettete Flüchtende zeigt, und deutet damit bereits an, dass einige Neuerscheinungen recht politisch geworden sind. Bezieht ihr damit ganz bewusst Stellung, oder kommt man heutzutage gar nicht mehr drumherum, weil auch die Comics angesichts der unruhigen Zeiten politischer werden?

Wir verstehen Comics und insbesondere Graphic Novels als ein Medium, das sich eben auch mit aktuellen Geschehnissen befasst und dabei durchaus Stellung bezieht. Zumindest die interessanteren Titel machen das. Der Riss ist eine Reportage von den Außengrenzen der Europäischen Union. Flüchtende sind hier natürlich ein großes Thema, aber auch die Situation an den Grenzen zu Russland und vieles mehr. Was passiert denn tagtäglich an der russisch-finnischen Grenze? Ein spannendes und wichtiges Thema und ein Thema, das bislang so noch nicht als Comic vorliegt. Damit meine ich nicht nur das Thema, sondern vor allem die Umsetzung als Fotocomic. Ehrlich gesagt konnte man mich bisher mit Fotocomics jagen, aber die Einzelbilder dieses Comics wurden aus mehr als 200.000 Fotos ausgewählt. Das Ergebnis ist fantastisch! Das Covermotiv wurde gar mit dem »World Photo Award« ausgezeichnet. Insofern war es für den Umschlag natürlich gesetzt.

Der Riss

Das Politische beschränkt sich dabei nicht nur auf die Welt vor der Haustür. In Nacha Vollenweiders Debüt Fußnoten mischt es sich ebenso ins Private wie in Birgit Weyhes Ich weiß, die ein weiteres Mal ihre Kindheit auf dem afrikanischen Kontinent beleuchtet, und in Teilen selbst in Fabien Toulmés Die zwei Leben von Balduin, wenn der Titelheld seinem Bruder nach Afrika folgt. Was zeichnet diese Werke aus?

Nur weil die Handlung zum Teil auf anderen Kontinenten angesiedelt ist, macht das die Bücher ja nicht per se politisch. Aber die Mischung von Privatem und eben auch Politischem macht das Ganze ja erst interessant. Im Fall von Ich weiß von Birgit Weyhe ist es eine Sammlung ihrer autobiografisch geprägten Erinnerungen an ihre Kindheit in Afrika. Der Titel versammelt fünf Geschichten, welche für die neue avant-verlag-Ausgabe von der Autorin umgearbeitet wurden. Das Buch, ursprünglich im Mami-Verlag erschienen, ist seit vielen Jahren ausverkauft, und da es zu Birgit Weyhes besten Arbeiten zählt, haben wir uns kurzerhand entschlossen, es einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Fußnoten
, das Debüt der jungen Argentinierin Nacha Vollenweider vollbringt das Kunststück, von Deutschland beziehungsweise Hamburg ausgehend immer wieder in die argentinische Heimat zu verweisen. So werden Gedanken und Realitäten abgeglichen und es ergeben sich neue Sichtweisen auf das Leben in einem fremden Land. Man könnte sagen, Nacha Vollenweider begründet damit ein neues Subgenre: Das Comicessay. Gezeichnet in starken Schwarz-Weiß-Kontrasten (typisch auch für andere argentinische Zeichner) präsentiert sich damit ein neues Talent innerhalb der deutschen Comicszene. Die avant-verlag-Ausgabe ist hierbei wieder einmal die Originalausgabe.
Bei Fabian Toulmés zweitem Buch Die zwei Leben von Balduin geht es weniger um Politik als um Emotionen. Wie schon in seinem Erstlingswerk Dich hatte ich mir anders vorgestellt gelingt es ihm auch in seiner aktuellen Geschichte, den Leser zu berühren. Balduin, der seinen langweiligen Büroalltag einerseits satthat, hat andererseits nicht genug Mut, um seinem Alltag zu entfliehen. Erst als er von seiner Krebsdiagnose und der damit verbundenen eingeschränkten Lebenserwartung überrascht wird, findet er die Kraft, sein Leben zu ändern. Er folgt seinem Bruder nach Benin – die Überraschung, welche den Leser erwartet, soll aber hier nicht verraten werden. Großes Gefühlskino anstatt politischer Aussage.

Ich weiß

Fußnoten

Mit den Anthologien Der Neue Arabische Comic und Schluss mit lustig - Aktuelle Satire aus der Türkei öffnet ihr zudem den Blick auf Comicszenen, die hierzulande bislang eher schwer zugänglich waren. Wie kam es dazu? Und inwieweit hat euch die Ausstellung über »Comics und Satire in der Türkei« beim vergangenen Comic-Salon in Erlangen dazu inspiriert?

Bei beiden Titeln handelt es sich um Co-Produktionen. Im Fall von Der Neue Arabische Comic mit dem Goethe-Institut in Kairo, dem Centre National du Livre und dem französischen Verlag Actes Sud. Es wird ein Überblick der sehr spannenden, sich in der Entwicklung befindlichen arabischen Comicszene geboten. Aus mehr als zehn Ländern werden die besten Kurzgeschichten ausgesucht und im Januar 2018, während des Festivals, im Musée de la Bande Dessinée in Angoulême ausgestellt.
Im Fall von Schluss mit lustig - Aktuelle Satire aus der Türkei in Kooperation mit dem Caricatura Museum in Kassel. Die gleichnamige Ausstellung eröffnet Mitte Juni in Kassel. Aufgrund der sich täglich zuspitzenden Lage innerhalb der Türkei natürlich ein hochbrisantes Unterfangen. Natürlich wollen wir damit auch ein Signal setzen und durch eine erhöhte Aufmerksamkeit im Ausland auch für die Zeichner eine praktische und moralische Unterstützung erzeugen. Die Ausstellung in Erlangen vor einem Jahr hat damit wenig zu tun, denn die Beiträge werden derzeit vor Ort erst ausgewählt.

Politisch ist auch Héctor G. Oesterhelds und Francisco Solano López' Eternauta, für den es im vergangenen Jahr den Max-und-Moritz-Preis und den Rudolph-Dirks-Award gab. Im Oktober legt ihr nun mit Eternauta 1969 eine Art Remake nach, das Oesterheld gemeinsam mit Alberto Breccia realisierte. Wie kam dieses Remake seinerzeit zustande? Und worin bestehen die Unterschiede zum Original?

Oesterheld hat für die argentinische Illustrierte »Gente« 1968 sein bekanntestes Werk Eternauta, dieses Mal mit Alberto Breccia neu bearbeitet. Dort wurde in Fortsetzungen noch einmal die Geschichte des ewig Zeitreisenden Juan Salvo erzählt. Breccias Artwork hebt diesen Klassiker des Genres noch einmal auf ein ganz anderes Niveau. Und es ist für den versierten Leser interessant, dieses Remake mit dem Original zu vergleichen. Einiges blieb gleich und anderes wurde verändert. Ein Klassiker der Neunten Kunst und damit eine weitere hochkarätige Ergänzung in unserer Programmlinie in der wir (fast vergessene) Comicschätze präsentieren. Von Breccia befinden sich bereits weitere Titel in Planung.

Das Hochhaus
Neben Birgit Weyhe und Oesterhelds Eternauta habt ihr mit Katharina Greves Das Hochhaus eine weitere Max-und-Moritz-Preisträgerin im Programm. Die Umsetzung ihres Webcomics kommt, der Form geschuldet, in einem ungewöhnlichen Hochformat daher. Lässt sich die Vorlage überhaupt adäquat zwischen zwei Buchdeckel pressen?

Das ist in der Tat die Herausforderung. Dafür mussten wir uns einen Trick einfallen lassen. Denn das Buch hat ein Querformat, wird aber über die lange Buchseite gebunden sein. Das heißt, man blättert es wie einen Kalender, denn die Stockwerke benötigen natürlich eine gewisse Breite, um die Lesbarkeit zu garantieren. Lassen Sie sich überraschen! Inhaltlich ein großer Spaß, zählt doch die Autorin zu den wenigen großen deutschen KönnerInnen in Sachen Humor.

Der große böse Fuchs
Bei all der Politik sollten wir den Humor aber nicht vergessen. Hier sticht neben den türkischen Satiren auf den ersten Blick Der große böse Fuchs heraus. Der Franzose Benjamin Renner erhielt dafür in Angoulême den Preis als »Bester Comic für Kinder«. Warum eignet er sich eurer Meinung nach auch als »Graphic Novel für jedes Alter«, wie ihr den Band bewerbt?

Es ist ein wunderbares Buch, welches man gut zusammen mit seinen Kindern lesen kann. Zum Schreien komisch – ich habe lange nicht mehr so ein witziges Buch in Händen gehabt. Die Geschichte des Großen bösen Fuchs ist wieder einmal die Geschichte eines sympathischen Losers, der es einfach nicht schafft, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. All seine bösen Absichten wenden sich schlussendlich gegen ihn selbst. Trotzdem oder gerade deswegen vereint er die Sympathien der Leser auf sich. Von Benjamin Renner stammt übrigens auch der Oscar-nomminierte Animationsfilm »Erneste & Célestine«.

Apropos Comicfestivals, München steht ins Haus. Was habt ihr geplant?

In München begleitet uns eine ganze Riege hochkarätiger Zeichner: Tom Tirabosco aus der Schweiz (aktueller Titel: Wunderland), Hervé Tanquerelle aus Frankreich (aktueller Titel: Grönland Vertigo – aus dem Herbstprogramm nach vorne verlegt), Italiens Superstar Zerocalcare (aktueller Titel: Kobane Calling), Marcello Quintanhila aus Brasilien (aktueller Titel: Tungstênio), Robert Deutsch aus Leipzig (aktueller Titel: Turing), James Turek aus Leipzig/USA (aktueller Titel: Motel Shangri-La) und schließlich Mikael Ross aus Berlin (aktueller Titel: Totem).
Dazu gibt es ja auch noch die Ausstellung »Der Mythos Eternauta« im spanischen Kulturinstitut Cervantes zu sehen. Es werden also weder Kosten noch Mühen gescheut, um das Comicfestival in München mit fantastischen avant-verlag-Autoren zu begleiten. Unbedingt vorbeikommen!

Zuletzt bleibt nur noch die Frage nach deinem persönlichen Favoriten. Welchen Comic sollte man dringend gelesen haben und warum?

Ich würde jedem Der große böse Fuchs ans Herz legen, weil es ein wunderbares, herzerwärmendes Lesevergnügen garantiert. Und natürlich Der Riss, weil es exklusive Einblicke in eine aktuelle Entwicklung bietet. Ein wichtiges Buch!

Die Fragen stellte Falk Straub

Abbildungen & Foto © avant-verlag


avant-verlag Neuheiten 2. Halbjahr 2017

Juni 2017

Hervé Tanquerelle
Grönland Vertigo
104 Seiten, Hardcover, 22,5 x 30,5 cm, vierfarbig, 24,95 €
ISBN: 978-3-945034-64-4

Juli 2017

Schluss mit Lustig – Aktuelle Satire aus der Türkei
Mit einem Vorwort von Sabine Küper-Büsch
80 Seiten, Hardcover, 20 x 23 cm, vierfarbig, 15 €
ISBN: 978-3-945034-74-3

August 2017

Fabien Toulmé
Die zwei Leben von Balduin
272 Seiten, Hardcover, 20,5 x 26,5 cm, vierfarbig, 30 €
ISBN: 978-3-945034-77-4

Nacha Vollenweider
Fußnoten
208 Seiten, Softcover, 17 x 23 cm, schwarzweiß, 15 €
ISBN: 978-3-945034-67-5

Birgit Weyhe
Ich weiß
244 Seiten, Softcover, 17 x 24 cm, schwarzweiß, 22 €
ISBN: 978-3-945034-66-8

September 2017

Carlos Spottorno, Guillermo Abril
Der Riss
184 Seiten, Hardcover, 23 x 32 cm, vierfarbig, 32 €
ISBN: 978-3-945034-65-1

Katharina Greve
Das Hochhaus
56 Seiten, Hardcover, 13 x 25,5 cm, vierfarbig, 20 €
ISBN: 978-3-945034-71-2

Oktober 2017

Benjamin Renner
Der Große Böse Fuchs
192 Seiten, Softcover, 17 x 23 cm, vierfarbig, 25 €
ISBN: 978-3-945034-70-5

Der Neue Arabische Comic
240 Seiten, Softcover, 17 x 24 cm, vierfarbig, 25 €
ISBN: 978-3-945034-76-7

Héctor G. Oesterheld, Alberto Breccia
Eternauta 1969
64 Seiten, Hardcover, 22,5 x 29,5 cm, schwarzweiß, 22 €
ISBN: 978-3-945034-69-9

November 2017

Frenk Meeuwsen
Zen ohne Meister
304 Seiten, Softcover, 21,5 x 24,5 cm, schwarzweiß, 25 €
ISBN: 978-3-945034-68-2


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