Frisch Gelesen Folge 161: Von Gir zu Mœbius

Ein Panel aus dem 1966 im Total Journal erschienenen Comic Der Outlaw.

»Ihm nach! Worauf wartet ihr?«


FRISCH GELESEN: Archiv


Von Gir zu Mœbius – Der SmaragdseeDas Cover des Sammelbands Von Gir zu Moebius.

Story: Jean Giraud
Zeichnungen: Jean Giraud

Splitter
Hardcover | 144 Seiten | Farbe | 25,00 €
ISBN: 978-3-96219-487-1

Genre: Western, Abenteuer, Politik, Satire

Für alle, die das mögen: Lucky Luke, Comanche, Leutnant Blueberry


Wer bei jedem auf Deutsch publizierten Comic von Jean Giraud – egal ob unter seinem Kürzel Gir oder seinem Pseudonym Mœbius – begierig zugreift, kommt auch um diesen Sammelband nicht herum. Der Splitter Verlag schließt damit eine weitere Lücke. Denn vom 2012 verstorbenen Neuerer der Neunten Kunst ist hierzulande noch längst nicht alles erschienen. Weiterhin schmerzlich vermisst werden etwa seine selbstreflexiven und -ironischen Innenansichten Inside Mœbius. Eine andere Lücke schloss Giraud noch zu Lebzeiten selbst. Unter dem Titel Les années Métal Hurlant stellte er 2010 eine mehr als 400 Seiten starke Werkschau seiner in den Comicmagazinen Hara-Kiri, Pilote, vor allem aber Métal Hurlant veröffentlichten Beiträge zusammen. In Frankreich kam sie bei Les Humanoïdes Associés auf den Markt, dem im Dezember 1974 von Giraud, Jean-Pierre Dionnet, Philippe Druillet und Bernard Farkas gegründeten Verlag, der auch als Herausgeber von Métal Hurlant fungierte. In Deutschland war der Band acht Jahre später etwas kryptisch als Mœbius Opus bei Splitter zu haben, auf 1111 Exemplare limitiert und dementsprechend schnell vergriffen. Ohne Limitierung legen die Bielefelder nun den 2019 bei den Humanos veröffentlichten Band De Gir à Mœbius – Le Lac des émeraudes in wortgetreuer Übersetzung nach.

Die Titelgeschichte: Der Smaragdsee.

Für Giraud-Fans lässt dieser Band nicht viele Wünsche offen. Natürlich könnten es immer noch mehr Geschichten, andere oder anders gewichtete sein. Die hier versammelten bilden jedoch einen überzeugenden Querschnitt, der, gepaart mit Claude Eckens Nachwort, schlüssig aufzeigt, wie Gir zu Mœbius wurde. Ein schöner, inzwischen 40 Jahre alter und dem Band als Vorwort vorangestellter Text seines 1980 verstorbenen Kollegen Joseph Gillain alias Jijé unterstreicht noch einmal die große Bewunderung und Zuneigung, die der Lehrmeister für seinen Schüler hegte. Für Jijé war Giraud nicht nur »der Rimbaud des Comics«, sondern auch eine Art Wunderkind der Neunten Kunst. »Alles ist ihm angeboren, und wenn er einige Zeit bei mir verbracht hat, dann wirklich nur, um die Tricks eines Metiers kennenzulernen – oder besser gesagt, sie auszuprobieren –, die er schon als Zwanzigjähriger draufhatte«, schreibt Jijé. Wie weit und gut der 1938 geborene Giraud von Anfang an war, zeigt der erste von ihm gezeichnete Comic aus dem Jahr 1956. Wie viele Tricks sich aber selbst dieser Wunderknabe erst noch draufschaffen musste, verdeutlichen wiederum Comics wie Frank und Jeremy:

Ab 1956 im Magazin Far West: die Serie Frank und Jeremy.

Mangelt es dieser ab 1956 im Magazin Far West veröffentlichten Serie zeichnerisch in erster Linie am richtigen Verhältnis von Proportionen, Perspektive und Dynamik und Überblick in den Faustkämpfen, fehlen späteren Comics, etwa dem Antiken-Einseiter Als die Galeere des Pytheas zum Pol segelte, die räumliche Tiefe:

Unspektakulärer Einseiter: Als die Galeere des Pytheas zum Pol segelte.

Neben dem Broterwerb dienten diese Seiten auch immer als Experimentierfeld. Beeindruckend ist und bleibt deren Vielfalt. Auf seinem Weg zu einem eigenständigen und unverwechselbaren Stil versuchte sich Jean Giraud an unterschiedlichen Genres. Und auch wenn der Western- und der Abenteuercomic im vorliegenden Sammelband dominieren, variieren Stoßrichtung und Form. Humoristisches steht neben Ernstem, kleinteilige Seitenarchitekturen neben groß angelegten Panoramen, Schwarz-Weißes neben mal dezent, mal prächtig Koloriertem und selbst eine Kreuzung aus Fotoroman und Comic ist darunter zu finden. In letztgenanntem Kuriosum inszenieren sich Giraud & Co. als Menschenfänger von Montana, die andere Comiczeichner in Wild-West-Manier jagen, gefangen nehmen und bei René Goscinny in der Pliote-Redaktion abliefern. Giraud wird politisch, wie einige weitere Beispiele des Bands zeigen.

Mix aus Fotoroman und Comic: Die Menschenfänger von Montana.

Einziges Manko bleibt die Qualität – sowohl, was die Comics selbst als auch deren Aufbereitung anbelangt. Wer Jean Giraud nur als fertigen Künstler kennt und dessen beste Werke liebt – von Girs Leutnant Blueberry bis zu Mœbius' Hermetischer Garage, dem Incal oder den Sternwanderern – wird an diesen Frühwerken voller erzählerischer und zeichnerischer Unfertigkeiten nicht zwangsläufig Gefallen finden. Wer hingegen an Comichistorie, am Gesamtwerk eines Künstlers und an Entwicklungslinien interessiert ist, erhält erhellende Einblicke.

Wie vom Splitter Verlag gewohnt, kommt das als hochwertiges Hardcover mit unschlagbarem Preis-Leistungs-Verhältnis daher. Bei einigen alten Comics ist die Druckqualität allerdings nur bescheiden. Farben und Konturen wirken verwaschen, Gesichter sind mitunter nicht klar zu erkennen. Ob das schon bei den Originalcomics im Erscheinungsjahr so war oder viel eher daran liegt, dass keine besseren Originale aufzutreiben waren, bleibt offen. Wie in so vielen Sammelbänden hätte auch hier, das Vor- und das Nachwort ergänzend, ein Artikel über die Publikationsgeschichte der einzelnen Comics, über deren Beschaffung und die Schwierigkeiten bei deren Aufbereitung nicht geschadet.

[Falk Straub]

Abbildungen © 2020 Splitter


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